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  <title>...liner Roma... - 4.</title>
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<div class="prose">

  <h3 class="center">4.</h3>

<p class="intro">
– kürzlich vermeldete Attentat Unter den Linden mit
bolschewistischen Umtrieben im Zusammenhang –</p>

<p class="clearb">
„Ich schenke sie dir!“ Hat er in Deeters Ohr geflüstert, als
er die keck überrumpelte Nuscha vom Nebentisch
heranschleppte. Frech für andere, so wurde ihm schon mancher
Erfolg. – Einfach fragen sie das Mädchen aus. Tippmamsell in
einer Firma für Wohnungseinrichtungen. Der Chef hat sie aus
Ostpreußen hergelockt, ihr den wohlbezahlten Posten
verschafft, hat das staunende Kind zunächst einmal städtisch
eingepellt: Eine Modegarnitur für zwei Mille. Nun trägt die
Eigensinnige zu dem täglichen bordeauxseidenen Kleide doch
hartnäckig ihre alte schmutzwollige – meinetwegen kleidsame
– Dorfmütze. Dr. Mulatti will sie doch später heiraten, soll
sie heiraten. Denn er ist ihren Eltern befreundet, sendet
wöchentlich Berichte nach dem Bauerngut, und die Antwort ist
immer Butter und Speck. – Nuscha ahnt nicht, wieviel sie
einmal von den Eltern mitkriegt, und die Eltern ahnen wohl
nicht, welchen Reichtum ihre Siebzehnjährige besitzt. –
Nuscha, wir sind nur simple arme Künstler, besonders ich,
(Gustav spricht leiser) mein Freund wird einmal ein
berühmter Maler. O, er ist ein lieber urgoldiger Kerl,
(wieder laut) hohe, reichere Kavaliere werden sich an dich
heranpirschen; gib reiflich acht, ob du nicht manches Gute,
auch manches Bessere bei uns findest. – Nuscha füllt ihre
Bureaustellung aus. Sie verabscheut ihren Chef, den
Mulatten. Ihr gefällt Berlin. – Nach Geschäftsschluß speist
sie zwischen Gustav und Deeters Gulasch zu vier Mark. Dort
gibt es sogar noch weiße friedensmehlerne Schrippen, trotz
Polizeiverbot. – Der Stacheldraht und die
Polizeivorschriften wuchern derzeit. Aber Gewohnheit
schwimmt wie ein Fischlein zwischen Korallen, und die
Exekutive ist Knetgummi in goldenen Fingern. – Nusch, warum
ließest du damals, ehe ich dir Zeichen gab, den älteren
soliden Herrn abblitzen, der sich zu dir setzte? – Nuscha
kaut mit schamlosem Appetit. „Weil er mir Geld anbot!“ Bald
unterläßt es Gustav, seinen Freund noch unauffällig
herauszustreichen. Sie liebt ihn schon, den starken,
trotzäugigen Balten, der so zart, fast ehrfürchtig über
Frauen denkt, liebt ihn mit all seinen Ungeschicklichkeiten
und seinem ungekämmten Haar. Vielleicht sogar fühlte sie
längst heraus, daß er eigentlich in der Fremde treu
verheiratet ist. – Deeters und Gustav äugeln sich zu: „Welch
ein Mädchen! Welch ein seltener Fang!“ – Still, weder
langweilig noch gelangweilt, lauscht sie, wenn die beiden
eine Stunde lang mit wenig Worten oder ohne Worte reden.
Über die deutscheste Stadt: Russisch-Riga. Oder über das
schmarotzende Straßenvolk in dem schmählich weltverhaßten
Berlin. – Sie legen verkrüppelte Beine über das Trottoir,
und die Luft trägt ihre Gesänge wie lampiongeschmückte
Ruderbarken dahin. Sie fiedeln, leiern oder würgen die
Ziehharmonika; singen schöngeistig oder kläglich oder

<img class="center" src="../Images/04.png" alt="Bild Kapitel 4"/>

idiotisch. Jeder auf seine Art, eingestimmt, die
kriegsverhärteten Herzen zu schmelzen. Und singen sie von
der Festung Köln am Rhein, dann fallen ihre Geschwister
summend mit ein, die Ohr verbrühenden Zeitungsschreier, die
halbwüchsigen Schokoladeverkäufer, Seife, Zigaretten, die
Streichholzkinder, die weißglutigen, schlangenhaft bannenden
Dirnen. Alles, was an der Ecke und unterm Tunnel
herumlauert. – Gustav erfindet allerhand Blödsinn. Wenn
Nuscha lacht, macht sie erst den Mund ganz weit auf, wie ein
Karpfen, dann, zwei Sekunden lang, überlegt und begreift sie
das Spaßige, und dann folgt ein schmetterndes Silberlachen.
– Das bordeauxfarbene Faltenspiel, die Strümpfe... bitte
Nuscha, steig mal auf den Stuhl. – Sie gibt Gustaven einen
Stüber: „Nein, du willst nur meine Beine sehen.“ Warum auch
nicht. Er weist durchs Fenster. Guck dir einmal die Straße
auf Beine an. So wunderbar zeigt sich die Welt den Hunden.
Nimm es lustig oder geil oder lärmend: Jede Teilbetrachtung
überrascht und belehrt. Die Wissenschaft und die Statistik
bedienen sich ihrer. Auch die Propaganda. Dann lassen die
großen Geschäftshäuser abends ihre Schwärme von Briefen los,
die beispielsweise alle nur zu den verstreuten Berliner
Rechtsanwälten hinfliegen. So läßt sich eine bunte Wiese nur
auf rote Nelken hin betrachten; so magst du auf einer
Perlstickerei nur blau bemerken. – Ungefragt wird Nuscha nie
aus ihrem eignen Leben berichten. Etwa von ihrem Geschäft,
wo doch die Kauflust parallel und verträglich mit der
Preissteigerung ins Unermeßliche wächst. Denn die Leute
hasten danach, ihr Geld in Möbeln, Brillanten, Autographen
oder im Bauch vor Besteuerung und Wegnahme zu schützen.
Deeters weiß keine bloßen Höflichkeiten zu sagen. Doch innig
beachtet er die Kühle an Nuschas Haut und Wesen und das
Erwachen in ihr, Raffinement, Fraueninstinkt, Kampf. –
Gustav führt seine Freunde zu einer Entdeckung. Am Zoo ist
eine Stelle. Da fährt die dunkelqualmende Stadtbahn über den
menschensaugenden Viadukt. Fährt mitten in ein fünfstöckiges
Mietshaus hinein, hindurch und an einer düsteren
fensterlosen Häuserwand entlang, die riesig und seltsam
gegen den Himmel absticht, der eigentlich zwielichtgrau und
von sturmflüchtigen Regenwolken bedeckt sein muß. Damit das
Bild heiße: „Großstadtelend!“ – Unter dem Viadukt geigt
jemand auf einer Metallsaite, die sich über Besenstiel und
Zigarrenkiste spannt. Es tönt wie Cello. Er spielt und
singt: „Das Band zerrissen und du bist frei...“ Kehlbaum
soll einmal nach dem Liede geschossen haben. – Deeters und
Nuscha Arm in Arm, Gustav umschwatzt sie. Denn das Gefühl
für solche warme Dreisamkeit beherrscht ihn wie ein Rausch.
Aber minutenlang vergißt er sie doch. Weil ein schmaler
weißer Spitzenstreif unter nachtschwarzem Sammet
hervorschimmert und wirkt auf Gustavens Blut wie Mondschein
auf Ebbe und Flut. – Gustav, Nuscha, Deeters. Es fällt ihnen
gar nicht ein, über das Gedränge in der Friedrichstraße zu
schelten, oder der trotzigen Schieberbarone zu spotten, und
sie umgehen in heiterem Bogen zwei hitzig verhandelnde
Juden, die den Weg versperren. Unterschiedliche Eindrücke
aus dem von Zufall, Ort und Stunde gefärbten Menschengewoge
bleiben an den drei Wanderern hängen. Es scheint, als ob der
Siebzehnjährigen nichts entginge, obwohl sie niemals
Erstaunen äußert. Später in der Hochbahn spricht Deeters
eine Beobachtung aus, ungelenk, mit kargen Worten. Die
strengen, düster zurückhaltenden Blicke der Deutschen fielen
ihm auf. Er sagt: Es ist doch unbegreiflich schauerlich, daß
all die Menschen soviel entbehren müssen, was anderwärts...
Hör mal Deeters, wenn du heute abend mit Nuscha zu den
Boxern gehst, dann bleibe ich lieber zu Hause. Ich muß
Briefe beantworten, eine Frau von Sidow bietet mir eine
Aupairstellung auf dem Lande an. Ich müßte im Garten mit
zugreifen und... Deeters winkt heftig ab. Du kommst auf
jeden Fall mit uns.</p>

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