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+
+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml">
+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Ergänzungen Prosa</title>
+</head>
+
+<body>
+<h3 class="section center">Ergänzungen Prosa</h3>
+
+<p>
+Der Abschnitt versammelt Prosa-Stücke, bei denen die
+Textfassung in der Zeitschrift deutlich von der in den
+gesamnelten Werken abweicht. Die Abweichungen betreffen vor
+allem Auslassungen oder abweichende Formulierungen.</p>
+
+</body>
+</html>
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+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Mieze Maier</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Mieze Maier</h4>
+
+<p>
+Ich besuche noch das Gymnasium, doch interessiere ich mich
+mehr für Theater und Literatur. Ich lese Wedekind, Rilke,
+Scharf und andere. Auch Goethe, Schiller und George mag ich
+nicht.</p>
+
+<p>
+Meine Freundin heißt Mieze Maier. Sie bewohnt mit
+ihrer Gesellschafterin in der Johann Georg-Straße eine
+elegante Vierzimmerwohnung, denn ihr Vater, Markus Maier,
+hat ihr viel Geld hinterlassen. Ihre Mutter ist vor zehn
+Jahren den Folgen einer Unterleibsoperation erlegen. Ihre
+Mutter soll schön gewesen sein.</p>
+
+<p>
+Mieze Mai er ist erst kürzlich sechzehn Jahre alt geworden.
+Ihr Geburtstag wurde sehr gefeiert. Viele hübsche und
+lasterhafte Mädchen und eine Anzahl junger Männer waren
+geladen. Man war sehr frivol. Man flüsterte einander ins
+Ohr, daß Mieze jetzt sechzehn Jahre alt sei. Dabei lächelte
+man&hellip;</p>
+
+<p>
+Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr
+kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht
+es, viele Männer krank zu machen, daß sie Trauer in den
+Augen tragein, wenn sie wach sind, und ein Lächeln um die
+Lippen haben, wenn sie schlafen. Und die Hände sind dicht an
+dem Körper&hellip;</p>
+
+<p>
+Stets hat sie ihre Favoriten gehabt. Die sind wie Puppen,
+mit denen Sie spielt, bis sie ihrer eines Tages überdrüssig
+wird und sie achtlos beiseite wirft. Ich kenne sieben. Sechs
+Wochen hat keiner in ihrer Gunst überdauert. Ich bin der
+Achte.</p>
+
+<p>
+Ich weiß &ndash; auch meine Tage sind gezählt. Auch ich
+werde grausam abgetan werden von diesem sechzehnjährige Ding
+&ndash; halb Kind nodh. Wenn idh daran denke, schäme ich mich
+schon jetzt und gräme mich. Und doch &ndash;</p>
+
+<p>
+Wir haben uns nicht gesagt, daß wir uns lieb haben, sind
+aber sehr zärtlich zueinander. Dies kam so:</p>
+
+<p>
+Wir trafen uns einmal. Das war Zufall. Der Tag war grau vor
+Müdigkeit. Dämmerung lag über den Dingen. Von wenigen
+Häusern fiel gelbes und rotes Licht.</p>
+
+<p>
+Wir gingen zusammen. Ihre Augen hielten Glanz. Manchmal
+deckte sie die halben Lider darüber. Und sie fing die Blicke
+von Männern in ihre Augen. Das muß eine feine Wollust
+sein.</p>
+
+<p>
+Wir sprachen nicht, nur einmal sagte sie, daß ich rote
+Lippen habe. Und einmal sagte ich, daß sie oberflächlich
+sei, denn ich wollte sie ärgern.</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage trafen wir uns wieder. Das war kein Zufall.
+Wir gingen über Wiesen. Sie legte die Hand auf meine
+Schulter und war gut zu mir. Da dachte ich an den Fußtritt,
+den ich einmal von ihr erhalten werde.</p>
+
+<p>
+&hellip; Ich hatte ihr gestern wehe getan, weil ich sie
+oberflächlidh nannte. Denn in ihrer Stimme klang etwas wie
+Weinen, als sie sagte:</p>
+
+<p>
+Ich bin wirklich nicht sb oberflächlich, wie Sie glauben,
+Olaf. Ich habe zweimal unglücklich geliebt und einmal
+glücklich entbunden.</p>
+
+<p>
+Mir schien, als ob die Hand auf meiner Schulter schwerer
+würde &hellip;</p>
+
+<p>
+Wir schritten langsam. Wir sahen keine Menschen.
+Wind kam über die Wiesen. Am Himmel waren überall Wolken,
+die drohten Regen.</p>
+
+<p>
+Sie sah mich an. Ihr Blick war nackt und sagte von
+Leidenschaft.</p>
+
+<p>
+Das war zu niedlich, wie ich sie da plötzlich packte und mit
+mir ins Gras warf und schon deshalb im Rausch ihr
+zuflüsterte Du, meine &ndash; Und wie sie schluchzte: Olaf
+&ndash; &ndash; &ndash;—</p>
+
+<p>
+Seither schreibe ich in der Schule schlechte Arbeiten. Ich
+werde wohl nicht versetzt werden.</p>
+
+<p class="source">
+Der Sturm, Nr. 28, 8. September 1910, S. 224</p>
+
+</body>
+</html>
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+<head>
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+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Kuno Kohn</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Kuno Kohn</h4>
+
+<p>
+Seit einem halben Jahr wohne ich in der Nürnbergerstraße.
+Von den Hausbewohnern hat noch niemand etwas gemerkt. Ich
+bin vorsichtig.</p>
+
+<p>
+Das weiße Kostüm bringt mir Glück, ich
+verdiene genug. Ich habe angefangen zu sparen, denn ich
+fühle, daß die Kräfte nachlassen. Häufig bin idh matt,
+manchmal habe ich Schmerzen. Auch werde ich dick und alt.
+Ich schminke mich nicht gern &ndash; &ndash;</p>
+
+<p>
+Ich stehe nicht mehr unter Kontrolle. Kuno Kohn hat mich
+frei gemacht, ich bin ihm dankbar.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn ist häßlich.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn hat einmal gesagt, daß er Knochenfraß habe.</p>
+
+<p>
+Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen:</p>
+
+<p>
+Es regnete. Die Straßen waren naß und schmutzig. Ich stand
+an einer Laterne in der Kaiserallee und blickte auf die
+angespritzten Kleider. Wenn Wind kam, fröstelte ich. Die
+Füße schimerzten von den Schuhen.</p>
+
+<p>
+Selten ging wer. Meist auf der anderen Seite. Mit
+aufgeschlagenem Mantelkragen. Den Hut über die Stirn&hellip;
+Niemand beachtete mich, ich stand traurig.</p>
+
+<p>
+Der Kies knirschte hinter mir. Hart und plötzlich, daß ich
+aufschreckte. Ein Polizist kam, die Hände am Rücken. Er ging
+langsam. Er sah mich argwöhnisch an, stolz auf sein Recht.
+Er fühlte sich Herr! Er schritt weiter. Ich lachte höhnend,
+er schaute sich nicht um. Der Polizist verachtete mich&hellip;</p>
+
+<p>
+Ich gähnte, es war spät geworden. Ich ging bis zur
+Kantstraße. Da kam einer, der war klein und verwachsen. Er
+blieb stehen, als er mich sah.</p>
+
+<p>
+Er versteckte einen Teil des Gesichtes hinter dürren
+Fingern. Und rieb am rechten Lid wie wer, der sich schämt.
+Und hüstelte&hellip; Ich trat dicht zu ihm, daß er mich fühlte.
+Er sagte: Na &ndash; Ich sagte: Komm Kleiner. Er sagte:
+Eigentlich bin ich homosexuell. Und nahm meine Hand.</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr. 32, 6 October 1910, S. 256</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Mabel Meier</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Mabel Meier</h4>
+
+<p>
+Es war spät. Ich ging den Kurfürstendamm entlang. In
+Abständen sah ich Leute, häufig hörte ich die Geräusche von
+Fahrzeugen. An der Fasanenstraße standen zwei; die &hellip;
+schämten sich, als ich nahe war.</p>
+
+<p>
+Mädchen kamen, die sich verspätet hatten. Wenige, die Geld
+verdienen wollten. Ich sah die lange Dirne, die sich jeden
+Abend in der Joachimsthalerstraße herumtreibt. Ich erkannte
+sie an dem Unterrock. Sie lachte zu mir herüber &ndash;</p>
+
+<p>
+Ich ging langsam. Ein Kriminalbeamter beobachtete mich. Ich
+ging weiter. Vor mir lief eine Frau, die blieb oft stehen
+und heulte.</p>
+
+<p>
+Ich dachte nicht nach. Ich schaute zu den Sternen und fand
+keinen Wunsch. Ich merkte, daß ich ohne Beziehung zu mir
+bin. Ich betrachtete mich gleichgültig wie einen fremden
+Gegenstand. &hellip; Ich schüttelte den Kopf, daß der alte Mann
+so spät allein am Kurfürstendamm ging&hellip; Und zu den Sternen
+murmelte&hellip; Und so sonderbar war.</p>
+
+<p>
+Ich begegnete einer Dame, die sagte: Au &ndash; Ich sagte: Darf
+ich Sie begleiten. Die Dame sagte: Bitte. &ndash; Es war ziemlich
+dunkel. Wir gingen miteinander; die Diame erzählte: Sie
+heiße Meier, der Rufname sei aber Mabel. Sie wohne am
+Kurfürstendamm. Bei Verwandten, die hätten eine
+Portierstelle. Im übrigen sei sie Choristin am
+Metropoltheater.</p>
+
+<p>
+Die Dame war nicht schön und nicht jung, aber sie sah
+zugänglich aus. Ich hatte keinen Grund schüchtern zu sein. &ndash;</p>
+
+<p>
+Vor dem Haus, in dem die Dame wohnte, blieben wir stehen.</p>
+
+<p>
+Ich machte den Vorschlag, noch ein Hotel aufzusuchen. Die
+Dame schien nicht abgeneigt zu sein, sie sagte: Nee! &ndash; Ich
+sagte: Wieso? &ndash; Die Dame sagte: Sie habe Trauer. &ndash; Ich
+fragte, wer gestorben sei. &ndash; Sie sagte: Papa! &ndash; Ich sagte:
+Sie wollen also nicht? &ndash; Ueber das Gesicht der Dame kam ein
+Lächeln. Sie schaute träumerisch zu einer Laterne &ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr, 36, 3. November 1910, S. 287</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Siegfried Simon</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Siegfried Simon</h4>
+
+<p>
+Neun Aerzte behaupten, dass ich an Wahnvorstellungen leide.
+Ich füge mich</p>
+
+<p>
+Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist
+freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will.
+Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die
+Stunden sterben &nbsp; Wenn es kalt ist, sitze ich am
+Fenster und sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten
+zu, wenn sie rufen oder arbeiten oder traurig sind. Ich
+entbehre nicht das Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir
+nichts tut und nichts von mir will. Ich beneide nicht die
+Menschen.</p>
+
+<p>
+Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein
+Sohn Siegfried kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen,
+als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten
+Geburtstag.</p>
+
+<p>
+Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf
+einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun
+schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold
+Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein
+neunzehnjähriger Sohn Siegfried. Wenige Verwandte folgten,
+die waren stillvergnügt und unterhielten sich, wenn ich
+recht gehört habe, von der Raupenplage im Tiergarten.</p>
+
+<p>
+Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er
+krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste
+und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der
+Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete
+waren schnell erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold
+Lehmann an, auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau, eine
+Gedächtnisrede zu halten. Er sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges
+Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd
+stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner
+in Wehmut.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried biss sich auf die Lippen, Der Pastor
+sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, dass er kurze
+Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder
+aufgenommen in den Mutterschoss. Ein edler Mensch ist
+heimgegangen -</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried bekam einen Lachanfall.
+Das Gesicht wurde rot und ernst. Er lachte, bis er
+röchelte.</p>
+
+<p>
+Meine Frau schrie.</p>
+
+<p>
+Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen
+Sohn Siegfried. Einige Frauen weinten in echte
+Spitzentücher.</p>
+
+<p>
+Ich war still.</p>
+
+<p>
+Der Pastor sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Wenn einer nicht weiss, wie er sich zu benehmen hat, soll er
+nicht kommen, wenn einer beerdigt wird. Amen.</p>
+
+<p>
+Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold
+Lehmann.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried reinigte sich die Fingernägel.</p>
+
+<p class="source">
+Der Sturm, Nr. 51, 18. Februar 1911, S. 408</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Der Freund</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Der Freund</h4>
+
+<p>
+Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind
+ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie Kulissen vor der
+grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem Lichtspiel: wenn
+der Abend wird, nicht anders als sie in der Frühe gingen.
+Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine Kammer sieht aus, wie
+wenn eben einer darin gestorben wäre.</p>
+
+<p>
+So oft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine
+sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen
+Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich
+verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren
+haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin
+und nach innen starre.</p>
+
+<p>
+Ich werde sehr wach davon und ich kann mich nicht mehr
+hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche
+Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p>
+
+<p>
+Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich
+ein, als kennten sie mich nicht: die Straße und die Menschen
+und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo
+ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p>
+
+<p>
+Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben
+und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein
+Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde.
+Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist,
+und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen aliein
+unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie
+lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe
+Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis
+Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie
+betäuben mich.</p>
+
+<p>
+Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes
+finde oder den Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu
+sagen ist, oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich
+lächle, wenn die Augen meines Freundes plötzlich leben
+werden und in den seidigen Schatten sind, daß sie wie aus
+Schleiern glänzen und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat
+es mir gesagt, und ihr werdet mich einen Narren nennen ..
+aber ich weiß, daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen
+ist wie der eines andern in den Lungen oder in dem
+Rückenmark &hellip;</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Seine Augen waren elend und vergangen und heillos
+schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er
+schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen
+Abenteuern und verbarg sie viel hinter den vergilbten
+Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat,
+wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht
+selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein
+Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die
+Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War
+verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen .. in dem
+Dunkel.</p>
+
+<p>
+Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre
+Augen kam. Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm.
+Frauen kicherten, sie schauten wie harmlos hin und
+klatschten einander auf die Schenkel oder auf die nackten
+Schultern und küßten ihre verwüsteten Männer. In der Nacht
+lagen sie wach und sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen
+wichen ihm aus.</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr. 85, 11 November 1911, S.678</p>
+
+</body>
+</html>
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+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4>
+
+<p>
+Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt
+werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische
+Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der
+Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen
+in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und
+anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar. Ein
+Beispiel:</p>
+
+<h5>Der Athlet</h5>
+
+<p>
+Einer ging in zerrissenen Hausschuhen<br />
+hin und her durch das kleine Zimmer,<br />
+das er bewohnte.<br />
+Er sann über die Geschehnisse,<br />
+von denen in dem Abendblatt berichtet war.<br />
+Und gähnte traurig,<br />
+Wie nur einer gähnt,<br />
+Der viel und Seltsames gelesen hat.<br />
+Und der Gedanke überkam ihn plötzlich &ndash;<br />
+Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut<br />
+Und wie das Aufstoßen den Uebersättigten,<br />
+Wie Mutterwehen &ndash;<br />
+das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,<br />
+ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen&hellip;<br />
+Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.<br />
+Und also fing er an, sich zu entkleiden&hellip;<br />
+</p>
+
+<p>
+Als er ganz nackt war, hantelte er etwas.
+</p>
+
+<p>
+Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der
+Athlet &hellip; Bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine
+Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p>
+
+<h5>Die Dämmerung*)</h5>
+
+<p>
+Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.<br />
+Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.<br />
+Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,<br />
+als wäre ihm die Schminke ausgegangen.</p>
+
+<p>
+Auf lange Krücken schief herabgebückt<br />
+(und schwatzend) kriechen auf dem Feld zwei Lahme.<br />
+Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.<br />
+Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.</p>
+
+<p>
+An einem Fenster klebt ein fetter Mann.<br />
+Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.<br />
+Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.<br />
+Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen.</p>
+
+<p>
+Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes
+zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die
+Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In
+diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen
+Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht
+erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen
+ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster,
+irgendwo &hellip; In ihrer Einwirkung auf die Erscheinung
+eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer,
+eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes,
+eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines
+Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der
+Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p>
+
+<p>
+Der Urheber des Gedichtes will nicht eine als real denkbare
+Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst
+ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet &ndash;
+angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen
+Teich als Spielzeug benutzt und die beiden Lahmen auf
+Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der
+Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen
+wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in
+den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der
+Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die
+Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen,
+in der er lustig sein muß &ndash; können ein dichterisches
+»Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar
+sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher
+beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden
+nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer
+Vorstellungen. Andere glauben sogar &ndash; zu Unrecht
+&ndash;, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche«
+Bilder möglich sind. (Man denke an die
+Futuristenmanschepansche.)</p>
+
+<p>
+Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar &ndash;
+ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein
+weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern
+hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern
+das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen
+sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr
+wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem
+Fenster.</p>
+
+<p>
+Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt
+mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde
+fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen
+lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug
+benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns
+haben &hellip; Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben
+&hellip;</p>
+
+<p>
+Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein
+Dichter wird vielleicht verrückt &ndash; macht einen tieferen
+Eindruck als &ndash; ein Dichter sieht starr vor sich hin &ndash;</p>
+
+<p>
+Anderes nötigt in dem Gedicht: Angst (Zweite Lyriknummer der
+Aktion) und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen
+müssen sterben &hellip; oder: Ich bin nur ein kleines
+Bilderbuch &hellip; Das soll hier nicht auseinandergesetzt
+werden.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch
+nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die
+Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht
+Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander
+bemerken&hellip; ist jedenfalls nicht das Charakteristische
+des »Stils«. Beweis ist: In dieser Nummer sind Gedichte
+abgedruckt, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem
+»Ungrotesken« verschwindet.</p>
+
+<p>
+Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten
+(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die
+Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge
+beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das
+Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne
+bestimmte künstlerische Absichten.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Von Lichtenstein sind zwanzig Gedichte unter dem Titel: Die
+Dämmerung in dem Verlag A. R. Meyer erschienen.<br />
+Alfred Lichtenstein (Wilmersdorf)</p>
+
+<p class="footnote">
+* Man erinnere sich des schönen: Weltende &hellip; des Jacob
+van Hoddis, erschienen im ersten Jahre der AKTION. Tatsache
+ist, dass A. Li. (Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er
+selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, dass van Hoddis
+das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu haben, Li. das
+geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht
+zu haben. [Anmerkung von Franz Pfemfert.]</p>
+
+<p class="source">
+Die Aktion, 4. Oktober 1913, S.942</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Fragmentarisches</title>
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+<body>
+<h3 class="section center">Fragmentarisches</h3>
+
+</body>
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diff --git a/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/01_ein_kapitel_aus_einem_fragmentarischen_roman.html b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/01_ein_kapitel_aus_einem_fragmentarischen_roman.html
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@@ -0,0 +1,372 @@
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+ <title>Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</h4>
+
+<p>
+Der Doktor Bryller ist schließlich doch Oberlehrer geworden.
+Einer, ein wütender Feind, hatte ihm schon vor Jahren in der
+veralteten Zeitschrift: »Das andere A« solch Schicksal
+prophezeit. Damals war er zu Tode traurig über die
+Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach
+heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen
+maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines
+Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um
+die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den
+Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in
+der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf,
+sich zu rächen.</p>
+
+<p>
+Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte
+dies mit; agitatorisch, wie er oft das Programm einer neuen
+Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten
+Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch
+seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im
+Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er
+tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er
+sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich
+erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er
+vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich
+nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist
+ziemlich schön.</p>
+
+<p>
+Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war,
+wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen,
+so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen
+Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald &ndash; bis auf
+seltene Zustände &ndash; dem Gefühl einer erhabenen
+Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen
+und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten,
+veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige
+Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er
+zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn
+ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach
+wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung
+überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den
+Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen
+war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken
+können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes
+Plakat:</p>
+
+<p>
+Bryllern ist der Eintritt verboten!</p>
+
+<p>
+Veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache
+seines Fernbleibens anzunehmen. </p>
+
+<p>
+Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein
+Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein
+unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer
+Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig, sich
+gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen
+Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische
+Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste
+literarische Stellung zu treten &ndash; etwa als Redakteur &ndash;,
+würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen
+davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als
+mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen
+Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen
+Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine
+gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. übrigens
+war ihm dieser Beruf durchaus bequem. überzeugt von der
+unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an
+dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der
+vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen
+Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf.
+Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar
+seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am
+ehesten Genüge tun.</p>
+
+<p>
+Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und
+häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des
+Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn,
+die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab
+es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der
+Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne
+auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor
+Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt.
+Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des
+Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen
+Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der
+Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs
+freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er
+geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal
+mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen
+Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen,
+ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein
+Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte
+Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem
+Maße verhaßtes Individuum war: Wegen seiner
+katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden
+Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der
+Kollege Laaks &ndash; der einzige, der für Mechenmal Worte der
+Anerkennung fand &ndash; unter Aufwand vieler schmutziger
+Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn
+Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise
+drohend aufmerksam zu machen.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen
+Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich
+subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des
+Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler
+wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen
+Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer
+Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig &ndash;
+in dem Lärm unverständliche &ndash; sicherlich bösartige Neckworte
+zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere
+Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch
+der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte
+nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das
+regungslose Gesicht des Doktor Bryller.</p>
+
+<p>
+Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten
+Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen.
+Nur einmal, als einer der Übermütigsten &ndash; natürlich der
+Quintaner Mechenmal &ndash; ihm unter johlendem Beifall der
+anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend
+gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den
+Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte,
+verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den
+Mechenmal vielleicht auch erreicht laben, wenn nicht der
+langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem
+Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß
+grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig
+phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen
+verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige
+Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer
+der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums
+geworden.</p>
+
+<p>
+Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige
+miteidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere, bleiche
+Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen Menschen
+dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden mit
+Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin belästige.
+Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten ließ man
+auch &ndash; wenigstens vorläufig &ndash; den glühenden Buckligen in
+Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern entlang. Und wäre am
+liebsten versunken. Froh war er, als die Schulglocke das
+Zeichen gab, in die Klassenstuben zu verschwinden.</p>
+
+<p>
+Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren
+Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor
+Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen
+Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn
+einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr
+aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus
+anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht
+aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern
+etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer
+Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das
+Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten
+eines Untergebenen&hellip;</p>
+
+<p>
+Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt
+haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat
+und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch
+entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche
+Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion
+begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den
+hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott
+und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen
+Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei
+dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem
+Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und
+zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las
+vor:</p>
+
+<p>
+Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà.</p>
+
+<p>
+Die rühmlichst bekannte Varietétänzerin Lola Lalà, die auch
+unter der Bezeichnung Lola Lalà auftrat und deren
+Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns
+drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was
+gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in
+Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld
+bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr
+Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der
+»Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes
+Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat,
+daß &ndash; so munkelt man wohl nicht mit Unrecht &ndash; der Dichter zu
+der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen
+unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern
+nicht vorenthalten: &ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+<p>
+Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde.
+Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch
+nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er:</p>
+
+<p>
+Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später
+Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen
+Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter
+<span class="spaced">Abtreibung</span> durch einen Einbruch
+verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche
+Untersuchung ist eingeleitet.</p>
+
+<p>
+Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so:
+»Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am
+höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch
+bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben
+unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er
+verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom
+religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum
+Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht,
+anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« &ndash;</p>
+
+<p>
+Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet &ndash;
+äußerlich ruhig &ndash; in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich
+Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst &ndash;« da sagte erregt
+der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus
+sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der
+Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem
+hebräischen Unterricht ausgeschlossen.</p>
+
+<p>
+Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein
+einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben
+mußte, adoptierte er &ndash; niemand weiß warum &ndash; einen kleinen
+Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt
+sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn
+des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin
+Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte.
+Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war,
+unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden.
+Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes
+Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den
+trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der
+Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang
+ließ er sich nicht sehen. überlassen einer mürrischen
+Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft
+des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne
+Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das
+krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft.
+Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und
+furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen
+mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und
+Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen.
+Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht
+beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber
+auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das
+Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. überall und
+von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die
+ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden
+Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen
+phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde
+weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum,
+betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos
+und kalkig kam er wieder.</p>
+
+<p>
+über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis
+vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe
+in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer
+Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten
+sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch
+Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen
+und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit
+einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung
+der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem
+Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das
+unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den
+kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen
+Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt.
+Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte,
+verloren: War nur noch Schreck und Hilflosigkeit und
+Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr
+zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie
+der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei
+nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen
+schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange,
+bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen
+Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und
+Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine
+Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen
+kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben
+traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben
+möchte.</p>
+
+<p>
+Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die
+Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein
+instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die
+Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die
+berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen
+distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen
+Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast
+unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen
+Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die
+Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger,
+die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben
+unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im
+Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin.
+Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. &ndash; Die Wächter
+drückten ein Auge zu &hellip; Benjamin erzählte dem Buckligen
+schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der
+Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr
+Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei
+Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher,
+kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band
+Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man
+Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch
+des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein
+konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot
+dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter
+durften ihn nicht mehr einlassen.</p>
+
+<p>
+Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er
+einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren
+hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf
+Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an
+seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er
+sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll
+niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während
+des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien &ndash; und
+das geschah fast immer &ndash;, fügte er (im Bett sitzend;
+stehend, wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige
+Monologe hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten
+Fingern und Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst
+kamen, betete er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel.
+Er mußte an seinen Tod glauben und den Glauben an Gott
+verlassen. Als er in die Schule kam, begann die Fülle von
+Leiden, die für manche Kinder damit verbunden sind.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Notizen zum Roman</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Notizen zum Roman</h4>
+
+<p>
+Das Ende</p>
+
+<p>
+Irrenhaus: Bryller, Lola.<br />
+Ertrinken im Meer: Kohn, Maria.<br />
+Selbstmord: Schulz, Paulus.<br />
+Lebenbleiben: Spinoza Spaß, Laaks, Mechenmal.</p>
+
+<p>
+I. Auftritt im Schulhof. Peter Paulus für, Laaks gegen Kohn
+(Kohn hatte sich verunreinigt, Max Mechenmal). Später Kohn
+an Paulus sich anschließend gegen Laaks. Eifersuchtsszenen.
+Infolge der Laakschen Intrigen fällt Paulus durchs
+Abiturium, schießt sich tot. Abschiedsbriefe (rührend an
+Kohn, offizielles Begräbnis, Kohn rennt davon).</p>
+
+
+<p>
+Oberlehrer Dr. Bryller läßt alles geschehen, redet dem
+geliebten Paulus sogar zu, sich zu töten: Töte dich, ehe es
+zu spät ist (solange du noch dazu fähig bist). Es hat zwar
+keinen Zweck, bereitet dir aber etwas wie Genugtuung. (Gott
+ist eine Zeiterscheinung.)<br />
+Die Leiche wurde wohlverpackt in einem Kasten auf den
+Friedhof getragen, wo man sie unter einer Garderobenmarke
+für ewig abgelegt.</p>
+
+<p>
+II. Szene Kohn, Laaks in Badewanne.<br />
+Laaks machte einen Angriff auf Maxens Weiblichkeit. &ndash; Laaks
+und Kohn treffen sich. Kohn grüßt, Laaks holt ihn ein. Lädt
+ihn ein. »Nein, Herr Oberlehrer.« Kohn zittert &ndash; &ndash; »wollen
+Sie ein Bad nehmen?« &ndash; »Ich habe schon gebadet.«&ndash;
+Mondlichtbeleuchtet die beiden in der Badewanne. In haariger
+Nacktheit &ndash; seine behaarten Weiberbeine &ndash; ein Männerfreund.</p>
+
+<p>
+III. Szene in homosexueller Kneipe.</p>
+
+<p>
+(Siehst du, mein Junge, so ist das Leben &ndash; er kniff ihn
+zärtlich in den Hintern.)</p>
+
+<p>
+IV. Abtreibungsszene.</p>
+
+<p>
+Die Varietétänzerin Lola Lalà: Die kluge Frau sagte
+scherzend: Wenn Frauen auseinandergehen, dann bleiben sie
+noch lange stehn. &ndash; &ndash; Auf Wiedersehn, mein Fräulein. Lola
+Lalà, alias Lene Levi läuft wie wahnsinnig.</p>
+
+<p>
+V. Einbruchsszene bei Lola:&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash;<br />
+
+&ndash; &ndash; Der berufsmäßige Einbrecher Benjamin, der unter dem Bett
+lag, wußte nicht, was er dazu denken sollte. Sein Kopf
+schüttelte sich, dabei stieß der Hirnschädel einen sinnlosen
+Bettpfosten, der daraufhin einen starren Ton von sich gab.
+Der Mann Benjamin erschrak. Die Lampe fiel um. Gardinen
+brannten sofort.<br />
+Plötzlich hatte sich auch ihr (Lola Lalà) Körper erschreckt.
+Alles in der Fresse von schleckerndem Feuer. Lief hinaus.
+Tür zu. Schloß ab. Zweimal. Sinnlos. Plötzlich hinter der
+Tür Männerrufe, kläglich: Hilfe, Hilfe. Schrie sie: Mörder,
+Mörder, Mörder. Rannte. Auf der Straße im Frieden des
+Abends: Leute aus Häusern. Ratlos. Die Rennende an allen
+vorüber. Mörder, Mörder ... Eine Verrückte hinter ihr her.
+Einem Hundefänger gelang, sie zu fassen. Mörder, Mörder. Mit
+ihr in offener Droschke und durch die Stadt. Mörder, Mörder.
+Fenster auf, Wagen bleiben stehen. Gelaufe. In
+Irrenabteilung des Krankenhauses.<br />
+Inzwischen brennende Stube. Einbrecher Benjamin auf Fenster
+strampelnd: Hilfe. Unerlaubte Handlung. Hilfe. Da soll man
+nicht Sozialdemokrat werden. Heulend: Falle der Polizei,
+anständigen Menschen verbrennen lassen. Hilfe, Hilfe.
+Feuerwehr kommt. Hilfe. Wasser bespritzt ihn. Vom Regen in
+die Traufe. Kann ja auch gleich in den Fluß springen.
+Ersäuft.<br />
+Als die halbverweste Leiche aus dem Wasser gezogen wurde,
+fing der noch betrunkene Arzt an, faule Witze zu machen. Dr.
+Bryller übergab sich.<br />
+Alles Reden, Denken, Dichten ist unnütz; eine aus dem Wasser
+gezogene vor dir im Tode liegende Leiche macht alles
+Geschreibe zuschanden mit ihrer schrecklichen Verzerrtheit.
+Sieh, wie das Gesicht und die Hände im Krampf wie in Eisen
+gegittert sind! Wie sie schreiend aus sich heraus wollen!</p>
+
+<p>
+Vl. Irrenhausszene: Die rothaarige verrückte Schwester des
+Martin Müller (Maria).<br />
+»Die Erde wird dunkel«, sagte die verrückte rothaarige
+Schwester des Martin Müller, Maria. (Sie liebt ihren
+Bruder.) Den kleinen Kohn streichelt sie, aber: »Ich kann
+nur Heilige lieben«, sagt sie. Die Melodien des Abends, der
+wie Seidenschleier alles verhüllt: Die grünen Bäume, den
+sehnsüchtigen Erdboden, die Bank mit dem rothaarigen Mädchen
+und dem kleinen Buckelkohn, &ndash; waren ringsum.<br />
+In der Irrenanstalt: Die eine Insassin war schon eine
+ziemlich angegraute Dame, die sagte: »Wenn man sich schon so
+lange hier aufhält, bleibt man da.« &ndash; Ein moderner
+Schriftsteller, der sich einbildet, er sei nur dort, um das
+Milieu zu studieren, in Wirklichkeit aber Gehirnerweichung
+hat. Etc.</p>
+
+<p>
+VII. Kohns erste Geliebte (auf Laaksens Veranlassung):<br />
+Hysterische Person, die Wanzen krochen nur so in der Küche
+herum.</p>
+
+<p>
+VIII. Das Ende des Dr. Bryller.</p>
+
+<p>
+IX. Schriftsteller Schulz und Kokotte Kitty.<br />
+(»Nicht so laut«, sagte Kitty, als Schulz ihr von Gott
+erzählte.)</p>
+
+<p>
+X. Vortrag des Gelehrten Neumann:<br />
+Sensation: Ein erst sechzehnjähriger Gelehrter namens
+Neumann spricht über Mutterschutz und Kindererziehung &ndash; &ndash; &ndash;
+scheint ihm hier nicht der Ort, über gefallene Mädchen zu
+reden &ndash; &ndash; &ndash; die Frau hat eingesehen, daß ihr der Platz
+gebührt, auf den sie gehört &ndash; &ndash; &ndash; das Elend der Prostitution
+&ndash; &ndash; posierte Handbewegungen. Stimme. Augenbrauen in die Höhe
+ziehen. Ich muß mich in Extremen ausdrücken. Ich muß den
+Zionismus als eine besondere Abart der Prostitution
+entschieden verurteilen. Mutterschutz: Die Mutter muß gegen
+ihre Kinder geschützt werden (neue sensationelle
+Auffassung), sagte eine Dame.<br />
+&ndash; &ndash; &ndash; Sie, eine Germanistin, warf in die Debatte: »Wo du
+deinen Glauben gelassen hast, mußt du ihn holen.«</p>
+
+<p>
+XI. Kohns zweite Geliebte: Backfisch (in der einen Hand
+hatte sie eine illustrierte Himmelskunde).<br />
+Er liebte sie in der Weise: Er schrieb sich häufig auf, wenn
+sie etwas Komisches sagte, um es später zu verwenden
+(schriftstellerisch). Aber in einem Kaffeegarten an einem
+Teich &ndash; überall war schon Abend, und Dunst hing wie Schleier
+an den Bäumen und Tischen und Kellnern &ndash; nahm er sein
+Notizbuch aus der ausgerissenen Innentasche seines
+Oberrockes und las ihr leise vor ... Sie lachte und er
+lachte &ndash; stiller und unglücklich. Jeder dachte: Das ist
+nicht das Richtige ... Sie dachte noch: Der ist nicht
+innig... Er dachte noch: Das arme Ding, wie fern ist sie
+mir... Dann gingen sie rudern.</p>
+
+<p>
+XII. Kneipenszene in Nürnberg: Kunstmayer.<br />
+Alle selig besoffen, können kaum noch richtig sprechen.
+Lallen. Einer sagt: »Dede do dadä.« &ndash; &ndash; &ndash; Ob sichs lohnt um
+dieser tierisch Dahindösenden? &ndash; &ndash; &ndash; »Sieh, wie ein
+Ochsenauge ist der Blick dieses Arbeiters nach innen
+gekehrt«, sagte Paulus.<br />
+»Die oberen Zehntausend regieren die Welt«, brummte der
+Kellner bitter, dann spielte er eine wilde Variation von
+»Puppchen, du bist mein Augenstern« auf einer Mundharmonika.
+Von Zeit zu Zeit schlug er dann gegen eine Kante. Die Hand
+rieb er an einem Ärmel oder Hosenbein blank.<br />
+Karl Kunstmayer, heruntergekommener Kabarettist: Ich
+schweinigle gern... &ndash; Ein ganz famoser Kerl, philosophisch
+tip top, aber ist zu ideal &ndash; &ndash; &ndash;<br />
+man war in wehmütiger Stimmung. Kunstmayer sang leise: »Das
+haben die Mädchen so gerne.«</p>
+
+<p>
+XIII. Ertrinken im Meer.<br />
+Ich habe eine Angst, daß auch das Mädchen ersoffen ist.
+Nebenbuhler in dem Meer verunglückt (ertrunken). »Es ist
+gemein, daß man darüber höchstens ein Gedicht machen kann
+oder plötzlich den Schluß zu einer Geschichte findet«,
+schrie der tote Kohn. Während sie gingen, fanden sie überall
+weiße Sonderblätter der Zeitung über das Geschehnis. &ndash; &ndash; &ndash;
+»Das ist eine Brutalität«, sagte ein anderer. »Dies ist der
+richtige Ausdruck.« &ndash; »Endlich!« Seufzte erlöst ein anderer.
+Kohn schrie: »Ich will aber keinen Schluß zu einer
+Geschichte haben. Das ist gemein. Ich komme von Sinnen.
+Aufpeitschen will ich. Quälen will ich euch, nicht euch
+befriedigen. Heulschreie müßt ihr aus euch stoßen. Ihr müßt
+euch auflösen in Schmerzen.« Der tote Kohn wurde nicht
+empfunden.</p>
+
+<p>
+Detektiv Daniel</p>
+
+<p>
+ein Gewitter machte Krach. Der Detektiv Daniel fuhr aus dem
+Schlaf. Er sagte: »Die verfluchte Ruhestörung.« Da klopfte
+es erregt an die Tür. Die Tänzerin Lola Lalà fand sich
+ein.<br />
+»Es gibt viel zu wenig Einbrecher«, sagte der Detektiv
+Daniel. »Es gibt weniger Mörder, als man denkt«, sagte
+Daniel, die ängstliche Frau beruhigend.</p>
+
+<p>
+Max Mechenmal</p>
+
+<p>
+er nahm das junge Ding, nachdem er sich erst nach dem Alter
+erkundigt hatte, nur erotisch überlegend, daß er zu ihr
+Liebesworte spreche und sich im stillen darüber lustig
+mache, also ein recht schlechter Kerl sei. Einigermaßen
+stolz auf die Erkenntnis seines schlechten Charakters,
+beruhigte er sich und beschloß, das Ding zu vergewaltigen.</p>
+
+<p>
+Berthold Bryller</p>
+
+<p>
+»Kuno Kohn ist dasselbe in Grün, was Else Lasker-Schüler in
+Blau ist«, sagte Bryller.<br />
+Wenn er ein Mädchen loswerden wollte, erzählte er ihr
+wunderschön-rührend von seiner Lues, stellte sich als
+Märtyrer dar, der um ihrer Gesundheit willen das Opfer
+bringe. Die meisten Mädchen hielten ihn weinend für einen
+bedeutenden und sehr edlen Menschen. Nur eine fragte einmal
+unverschämt, warum er das nicht vorher erzähle.<br />
+Gegensatz zwischen dem wurstigen gewandten Nihilismus
+Bryllers und der reinen Verzweiflung des Paulus.</p>
+
+<p>
+Oberlehrer Laaks</p>
+
+<p>
+ich habe Sehnsucht, Liebe und was weiß ich für sie. &ndash; Da
+könnten komische Dinge geschehen.</p>
+
+<p>
+Lola Lalà</p>
+
+<p>
+sie prahlte mit ihrer zeitweisen und teilweisen
+Unberührtheit.<br /> Sie sagte: Wie gesagt, ich bin
+sichtlich erschrocken. &ndash;&ndash;Ich &ndash;&ndash;
+&ndash;&ndash;finde dies mit Recht &ndash;&ndash;
+&ndash;&ndash;albern. &ndash; &ndash; &ndash; Diese
+&ndash;&ndash; &ndash;&ndash;wirklich kurzen Zeilen.
+&ndash;&ndash; &ndash;&ndash;&ndash;&ndash;&ndash; Er liebt
+mich nur erotisch. &ndash;&ndash;&ndash; Ich lüge ja immer.
+&ndash; &ndash; &ndash; Der hat mich sehr &ndash;&ndash;
+&ndash;&ndash;lieb. &ndash; &ndash; Jede Tänzerin hat
+bekanntlich einen &ndash;&ndash; &ndash;&ndash;Freund.
+&ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Ideen, Bilder und Situationen</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Ideen, Bilder und Situationen</h4>
+
+<h5>Notizen</h5>
+
+<p>
+»ich bin ein Nihilist, wie er im Buch steht«, sagte er,
+erstaunt über das furchtbare Wort.</p>
+
+<p>
+Ich gieße meine Augen in meiner Hände Grab.</p>
+
+<p>
+Der Kopf sitzt, eine Geschwulst, auf einem ausgestopften
+Anzug. In einer Tasche eine prachtvolle Miniaturausgabe des
+Konkursrechtes, in der anderen ein wertvolles kleines
+Strafgesetzbuch.</p>
+
+<p>
+Lampen, die Blumen der Nacht, glimmen.</p>
+
+<p>
+Nackte Finger schleichen, spielende weiße Schlangen, hin zu
+einem Revolver. Und alle Männer blicken. Der Himmel fließt
+um die Nackte wie ein Tanzkleid. Sie schießt den Spiegel
+tot. &ndash; &ndash; Schreit auf, hebt Hände. Aus zitronenfarbenem
+Himmel fällt ein Weiß in die grüne Erde.</p>
+
+<p>
+Er spielte an einem Pickel über dem Halskragen, drückte
+wiederholt, so daß die Stelle rot wurde und aufschwoll, bis
+der Pickel platzte. Er besah den Eiter auf der Hand, zog ein
+Tuch aus einer Tasche, wischte die Hand ab, hielt das Tuch
+an die wunde Stelle, saß verloren traurig. »Der Mensch ist
+hochinteressant«, sagte eine hysterische Dame in dem
+Vorbeigehen.</p>
+
+<p>
+Die Erde flackert irgendwo.</p>
+
+<p>
+Mir passiert häufig beim Lesen einer kitschigen rosanen
+Geschichte, daß mir trotz des inneren Lachens ein Schauer
+durch den Körper geht.</p>
+
+<p>
+Die Erde, das Vieh.</p>
+
+<p>
+Ich bin in meinem schmerzenden Kopf.</p>
+
+<p>
+Die Luft fliegt schmierig umher. Sie bleibt an den Häusern
+kleben und an den Händen der Menschen.</p>
+
+<p>
+Sammlung: Berühmte Luetiker.</p>
+
+<p>
+Ich will aufhören, langsam zugrunde zu gehen. Daß geistige
+Leute sich nicht unterhalten können. Weib ist nur ein
+Vorwand für namenlose Sehnsucht.</p>
+
+<p>
+Ich liebe die Menschen, nicht Einzelne. Ich leide mit den
+Elenden um des Elends wegen.</p>
+
+<p>
+Er fraß den Schlaf.</p>
+
+<p>
+Gespräch: »Sie will sich töten.« Er: »Am sichersten wäre
+es.« Ihre Augen lagen, leuchtender Schmuck, in ihrer Haut.
+Ich bin ja nur ein armes, altes, dickes, schwaches Weib.</p>
+
+<p>
+Ein Reiter ging, sich auf einen Regenschirm stützend,
+nachdenklich durch die sonnigen Straßen.</p>
+
+<p>
+Ich bin mir überlegen.</p>
+
+<p>
+Die Vielheit der Frauenzärtlichkeiten läßt erst das Ideal
+»Mein Weib« konstruieren. Man muß sich bewußt sein, daß
+tatsächlich &ndash; Gottseidank &ndash; ein ständiger Wechsel notwendig
+ist.</p>
+
+<p>
+Und eine ist am Strand &ndash; und
+eine <span class="spaced">liest</span> am Abend &ndash; und eine &ndash; &ndash;
+&ndash;</p>
+
+<p>
+ein Pferd machte Laufschritt.</p>
+
+<p>
+»Ich finde das unreif und schlecht beobachtet«, spricht
+Backfisch von erotischer Skizze.</p>
+
+<p>
+»Der strengste Objektivismus ist die höchste Moral«, sagte
+mein Bruder, als er mich schlug. Das ist eine sehr edle
+Anschauung.</p>
+
+<p>
+Idee zu einem Drama: Befriedigung ist auch das Letzte
+nicht.</p>
+
+<p>
+Er sank hinunter. Tief, tief in einen Schlaf hinein wie in
+einen Sarg aus sanften Frauen.</p>
+
+<p>
+Ein Vogel knarrte im Baum.</p>
+
+<p>
+Auf einem hohen Berg lag ein bärtiger Kopf, neben ihm ein
+Bauch. Auf dem Bauch spielten fleischige Finger
+melancholisch mit einer dicken goldenen Kette, die wie Feuer
+glitzerte.</p>
+
+<p>
+Augen und Sehnsucht: Schwarze Flammen aus dem Gesicht
+beleuchten die weiße Stirn, hinter der tausend mit Sehnsucht
+gefärbte Bilder funkeln.</p>
+
+<p>
+In ihrem Hirn tanzte gerade ein schöner Geliebter. Ihre
+Augen waren ein lichtbraunes Gewand.</p>
+
+<p>
+Caféhaus: Alte fette Dirnen (Großmütter) mit schabiger Haut
+&ndash; baumelnde dicke Beine &ndash;,junge mit schwarzen Fingernägeln
+in neuen koketten Kleidern.</p>
+
+<p>
+Er betete in die Luft, mit wundem Rücken und aufgerissenem
+Maul, er rief: »Mein Körper ist ein Bett, in dem gehurt
+wird.«</p>
+
+<p>
+Manche Dirnen haben so viel sanft überlegene Mütterlichkeit
+um die Augen und sind die hilflosesten Kinder.</p>
+
+<p>
+Der abgelehnte Geliebte: Er geht durch viele Straßen und
+Stunden. In jeder Verzweiflung. Stellt sich vor den Spiegel.
+Hat sich lieb.</p>
+
+
+<h5>
+Die Tiere</h5>
+
+<p>
+Schauspiel</p>
+
+<p>
+Grundgedanke: Heilige Sehnsucht aus dem tierischen
+Triebleben zur seelischen Reinheit. Je größer der Dreck,
+desto heftiger die Sehnsucht. Aber vergebens: Die
+Sehnsüchtigen gehen im Dreck unter.</p>
+
+<p>
+Nur der Bürger, der sich über nichts schwere Gedanken macht
+und nichts tief empfindet, blüht im Dreck.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Geschichten</title>
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+
+<body>
+<h3 class="section center">Geschichten</h3>
+
+</body>
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+ <title>Der Selbstmord des Zöglings Müller</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Der Selbstmord des Zöglings Müller</h4>
+
+<p>
+Ein Herr Ludwig Lenzlicht war Erzieher und Hauslehrer in
+einer Anstalt für psychopathische Kinder. Er wurde immer
+»Herr Kandidat« gerufen. Er war bartlos wie ein
+Schauspieler, auch sprach er so. Meist trug er eine strenge
+scharfe Maske auf dem Gesicht.</p>
+
+<p>
+Dieser Herr Lenzlicht fand zwei Tage nach der Beerdigung des
+Zöglings Martin Müller (der hatte sich vorher mit den
+Strümpfen der Erzieherin Nora Neumann an dem Fensterriegel
+einer Bodenluke erhängt) in einem dunklen Winkel seines
+Pultes ein Schreibheft. Er nahm es heraus. Und sah es an.
+Auf dem Etikett war zu lesen: Dieses Werk widmet Martin
+Müller den neuen Primitiven. Auf der ersten Seite war zu
+lesen: Lieber Lenzlicht, Sie sind der einzige von den
+Imbezillen der Anstalt, dem ich etwas Verständnis für die
+Betrachtungen zutraue, die ich hier niedergeschrieben habe.
+Doch daß auch Sie an meiner Persönlichkeit, ohne deren
+Kulturkraft zu fühlen, wie an einem leeren Gesicht
+vorbeigerannt sind, armer Blinder, wird Ihnen die Lektüre
+beweisen. Vielleicht werden Sie halbhell. (Dann wären Sie
+ein Glücklicher zu nennen.) Ich werde mich jetzt in der
+Dachluke zerstören, ein Einsamer in der Erkenntnis. Mein
+Werk wird dauern. Martin Müller.</p>
+
+<p>
+Herr Lenzlicht wunderte sich, als er die Sätze las. Nachher
+dachte er über Größenvorstellungen bei Knaben. Er war nicht
+lustig und nicht traurig, aber er sah finster aus. Das
+Denken war ihm keine Leidenschaft, deshalb las er bald
+weiter.</p>
+
+<p>
+Auf den nächsten Seiten waren einige Abhandlungen über den
+Wert der Kunst geschrieben, über ihre Zukunft, über die
+Wechselwirkung der einzelnen Künste, über die Architektur
+des literarischen Stils, über die neuen Primitiven, die, von
+Müller ausgehend, eine siegessichere Revolution in dem
+Kunstleben herbeiführen würden. Die Abhandlungen füllten das
+Heft fast. Herr Lenzlicht las sie ohne regere Anteilnahme,
+oft überblätterte er Seiten.</p>
+
+<p>
+Der letzte Aufsatz des Heftes schien ihn mehr zu
+interessieren. Die Augen waren weit, sie klammerten sich an
+die Schriftzeichen. Auch hielt er das Papier wie ein
+Kurzsichtiger; und mit beiden Händen. Manchmal sprach er
+etwas Undeutliches. Oder er lachte, ohne es zu wissen. Oder
+er lachte, wie einer Donnerwetter sagt. Oder er ließ die
+Zunge aus dem Mund hängen. In dem Heft war zu lesen:</p>
+
+<p>
+Ich sitze an dem Arbeitstisch und träume, was dem guten
+Lenzlicht bedenklich erscheinen würde: Die Jungen dürfen
+nicht träumen. Und dem Lenzlicht ist schon aufgefallen, daß
+die Haut um meine Augen wie Asche geworden ist. Er sagt
+häufig mit sonderbarer Betonung: Ob ich denn schlecht
+schlafe, ich sähe so komisch aus. Einmal wurde ich
+ärgerlich, ich sagte: »Sie auch, Herr Kandidat.« Verlegen
+lächelnd schlug er mich blutig.</p>
+
+<p>
+Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil Fräulein Neumann
+hereinkam. Sie hat heute bunte Beine mit Lackschuhen, das
+reizt mich. Ich hatte mir zwar vorgenommen, sie nicht mehr
+zu beachten &hellip; Sie hat sich neulich so prüde gezeigt &hellip;
+Sie war nachmittags in die Stadt gefahren. Sie kam spät
+zurück. Ich begegnete ihr auf der Treppe. Sie riß sich aber
+los. Und sagte erregt: »Bett ist Bett.« Und ging in ihre
+Stube. In den folgenden Tagen sah ich sie nicht. Der
+Hausdiener Hermann sagte, sie müsse das Zimmer hüten. Ich
+fragte, warum. &ndash; Er sagte, sie habe sich verlobt. Er
+schmunzelte.</p>
+
+<p>
+Mir sind die erotischen Unterhaltungen allmählich ein Greuel
+geworden. Immer versuche ich, frei zu werden. Es gelingt
+selten. Ich weiß, daß ein begreifendes Weib mich erlösen
+kann. Hier gibt es das nicht: Fräulein Neumann ist ein
+albernes junges Ding von achtundzwanzig Jahren. Die Köchin
+ist ein unreifes Schwein. Das Stubenmädchen Minna ist
+hochmütig, sie ist ohne Grund unzugänglich. In Betracht käme
+vielleicht die Leiterin, Doktor Mondmilch; aber wenn ich
+einmal versuche, ihr meine Leiden und Schönheiten in ernster
+Unterhaltung verständlich zu machen, sehnsüchtig auf ihre
+Augen schaue, mich ihr gebe &hellip; Ist sie fremd, macht
+Notizen, hat geheime Unterredungen mit Lenzlicht, verordnet
+mir Beruhigungsmittel. Sie ist sehr brutal, ich glaube
+zuweilen: Sie liebt mich heimlich. Sie scheint unglücklich
+zu sein, ich habe sie gern. &ndash;</p>
+
+<p>
+Gestern konnte ich nicht weiterschreiben, weil der fette
+Idiot Backberg mich zu Tisch rief. Ich sitze neben der
+Russin Recha. Die kneift mich gern in die Beine; sie sagt,
+ich sei zu dick. Den langen Lehkind küßt sie, weil er wie
+ein Skelett aussieht. überhaupt vertrage ich mich mit den
+Viechern, die man hier zusammengebracht hat, nicht. Täglich
+ist Ärger. Besonders der überaus kleine siebenjährige Max
+Mechenmal &ndash; übrigens ein außergewöhnlich unbedeutender
+Mensch &ndash; macht mir viel zu schaffen. Er mag mich nicht, weil
+er meine Überlegenheit fühlt; er versucht auf jede Weise,
+mich unmöglich zu machen. Er ist hinterlistig und feig.
+Niemand findet ihn nett. Er tut nichts lieber, als uns
+aufeinander zu hetzen, arge Klatschereien zu verbreiten,
+möglichst viel Schaden anzurichten. Er versteht, sich in dem
+Hintergrund zu halten, in dem geeigneten Augenblick zu
+verschwinden. &ndash;</p>
+
+<p>
+Einmal schrieb ich, nichts Böses vermutend, in unserem
+geräumigen Bade- und Klosettraum (hier bin ich vor
+Überraschungen sicher) eine längere Arbeit über den
+»Schwindel von dem Genie«. Ich führte etwa aus: Genie ist
+ein Titel, keine Eigenschaft. Das wird nicht bedacht,
+deshalb ist die große Verwirrung. Titel ist Zufallssache,
+zumeist verdächtig. Wer Genie genannt wird, ist darum nicht
+ein genialer Mensch. Geniale Menschen werden diesen Titel,
+der von der Menge verliehen wird, regelmäßig nicht erlangen.
+Die genialsten Menschen aller Zeiten sind gewiß in
+Tollhäusern und Gefängnissen geborsten. Wer von tausend
+Alltagsleuten verstanden wird, geliebt wird &hellip; Gilt mir
+nicht. &ndash;</p>
+
+<p>
+Da wurde ich durch das langsame, seelenvolle Geschrei des
+blinden kleinen Kohn, mit dem ich trotz meiner
+antisemitischen Grundsätze innig befreundet bin, erschreckt.
+Ich sprang auf, eilte hinaus. Ich sah, wie Max Mechenmal hin
+und her lief, den kleinen Kohn in die Beine zwickte oder
+ähnliche Bosheiten tat; dabei rief er: »Fange mich.« &ndash; Der
+kleine Kohn war bleicher. In seiner Hilflosigkeit. Er hielt
+den Rücken gegen eine Wand. Die dünnen leidenden Hände
+tasteten in der Luft &hellip; Ich habe niemals so viel
+konzentrierten Schmerz gesehen, wie auf den verstorbenen
+Augen des kleinen Kohn lag. Ich eilte, ohne mir Zeit zu
+lassen, die Kleider in Ordnung zu bringen, auf Mechenmal zu,
+um ihn für die rohe Gesinnung zu züchtigen. Meine Hose wurde
+durch einen Nagel, der aus der Wand ragte, beschädigt.
+Mechenmal benutzte die Verzögerung, schlüpfte an mir vorbei,
+lief in den Klosettraum, den er hinter sich verriegelte. Ich
+schlug an die Tür. Er sagte: »Besetzt!« Ich war sehr
+ärgerlich. Mir fiel zudem ein, daß ich die Papiere, auf
+denen die Arbeit über den »Schwindel von dem Genie«
+geschrieben war, in der Eile vergessen hatte mitzunehmen.
+Ich rief, er möge sie herausgeben. Er antwortete nicht.
+Später hörte ich, wie er gewaltig kicherte. Und ich wußte:
+Das Manuskript, das ich der neuen Zeitschrift »Das andere A«
+einreichen wollte, werde ich nicht wiedersehen. Traurig ging
+ich fort &ndash;</p>
+
+<p>
+ach, der kleine Kohn ist nun leider tot. Er ist an seinen
+Gespenstern gestorben, er hat mir das oft vorausgesagt.
+Seine Gespenster hat er gesehen, der blinde kleine Kohn.
+Manchmal, wenn heller Tag war. Dann fand man ihn zitternd
+und weiß in einem Winkel. Die Beine hatte er so weit
+angezogen, daß die Oberschenkel gegen die eingesunkene Brust
+gepreßt waren. Zwischen den Knien lag der Kopf. Die winzigen
+erschrockenen Fingerchen krampften sich um die Schuhspitzen.
+Wenn man ihn berührte, schrie es aus ihm. Der Schrei war so
+gellend grauenhaft, daß man unwillkürlich losließ, als hätte
+man einen Stoß erhalten. Sooft das geschah, war man ratlos
+wie bei dem ersten Mal. Doktor Mondmilch wurde gerufen. Sie
+streichelte ihn ganz wenig. Die Starrheit löste sich in
+Schluchzen auf. Er bekam Tropfen, wurde in sein Bett gelegt,
+schlief schlimm. Mechenmal rief, daß es bis auf die Straße
+schallte: »Kohn ist wieder verrückt.«</p>
+
+<p>
+In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft,
+besonders nachts. Die Ohnmachten waren tiefer, die
+nachfolgende Ermattung trostloser. Als an einem Abend Doktor
+Mondmilch, einer Einladung des Tier- und Nervenarztes Bruno
+Bibelbauer folgend, für längere Zeit weggegangen war, trat
+die Katastrophe ein. Der kleine Kohn lag bald tot in dem
+Bett. Mechenmal sagte: »Jetzt stört er einen wenigstens
+nicht mehr, wenn man schlafen will.« Der fette Idiot
+Backberg freute sich auf die Beerdigung. Die Köchin heulte;
+und das Stubenmädchen Minna. Nora Neumann hatte sich in ein
+Zimmer eingeschlossen; ich glaube, sie dichtete. Die Russin
+Recha war verschwunden; nachher fand Lenzlicht sie in dem
+Sterbezimmer. Sie saß auf dem Bett, hielt die eine Hand
+Kohns verzückt an ihr Herz, mit der rechten Hand zog sie das
+Lid seines rechten Auges hin und her. Ich hörte, wie sie
+weinte und sagte: Das sei so interessant. Lenzlicht
+schimpfte wehmütig.</p>
+
+<p>
+Noch jetzt sagt Mechenmal, wenn er von dem kleinen Kohn
+spricht: »Der war ja verrückt.« Ich bestreite das. Jeder
+nicht stupide Mensch hat dann und wann Erlebnisse, die mit
+den althergebrachten, allen zugänglichen Gesichten nicht in
+Einklang zu bringen sind. Manchmal ist man feinfühliger als
+sonst und als die anderen. Wenn man allein ist, die
+bekannten Dinge ruhiger sind &hellip; Vielleicht, wenn Abend ist,
+bei einer halbhellen Lampe &hellip; In der Dämmerstunde in
+einsamen Räumen .., In Nächten, die keinen Schlaf tragen. Da
+heben sich aus der Stille Geräusche, die ich niemals gehört
+habe, die ich nicht erklären kann. Ich schrecke auf &ndash;
+fürchte mich &ndash; will in die heiße Helligkeit zu vielen
+lustigen Menschen &ndash; will nicht hören &hellip; Höre feiner. Die
+Stille reißt auseinander. Alles klafft &hellip; Und klingt.
+Bewegung kommt in die Gegenstände. Bösartige Schatten
+ängstigen. Alle Formen verlieren ihre Gewohnheit. Ich warte
+&hellip; Auf ein entsetzliches Wunder, auf Unkörper.</p>
+
+<p>
+Ich bin ein entschiedener Feind von Geistern und Gespenstern
+und ähnlichen Dingen. Ich finde diese Erscheinungen wenig
+sinnig und ohne Witz, ich will nichts mit ihnen zu tun
+haben. Und konnte doch nicht hindern, daß mir erst kürzlich
+gegen die Mittagsstunde eine antike Frauengestalt mit herben
+Gesichtszügen erschienen ist. Ich war davon unangenehm
+berührt. Um so mehr, als mir später einfiel, daß das
+möglicherweise meine selige Mama gewesen ist.</p>
+
+<p>
+Es ist nicht weniger unvernünftig, die Geister zu leugnen,
+als unvernünftig ist, Wunder anzuerkennen. Wenn Gespenster
+alltäglich wären, würden die Philosophen ein Naturgesetz für
+sie konstruieren, damit man sie daraus herleiten könnte. Und
+ohne Aufregung übersehen könnte.</p>
+
+<p>
+Ich werde mich weiteren Grübeleien über diese verwirrten
+Dinge entziehen, indem ich mir das Leben nehme. Man wird
+empört sein. Mir die Berechtigung absprechen, über mich zu
+verfügen. Man wird mich für überspannt erklären. Und das
+medizinisch begründen. Um sich zu beruhigen; denn wenn jeder
+so dächte, gäbe es bald ein allgemeines Protestieren gegen
+das Dasein. Das Leben würde boykottiert. Das darf nicht
+geschehen. Wenn man fragt: Warum nicht? &ndash; Wird man ein
+Sophist gescholten. Die Leute sterben nicht gern, das heißt
+Lebensenergie. Sie helfen sich mit Göttern und heiterer
+Weltanschauung. Wenn einem der Jammer doch zu grell wird,
+fährt er in ein besseres Irrenheim.</p>
+
+<p>
+Zu dem Entschluß, mich von mir zu befreien, bin ich vor
+langer Zeit gekommen. Der wichtigste Beweggrund war: Ich bin
+mir ernsthaft unsympathisch. Ich kann zufällig nicht
+aushalten, über ein ganzes Leben bei mir zu bleiben. Ich
+kenne mich zu genau. Ich habe häufig geweint, daß ich von
+mir nicht loskommen kann. Ich empfinde mich als eine
+häßliche Last. Ich möchte in einem mutigen, ehrlichen,
+reinen Jungen sein. Mein Mensch ist unwahr, unästhetisch,
+plump. Ich weiß, daß der Tod mich gründlich zugrunde richten
+wird; der Gedanke ist für mich Ursache zu lebhafter
+Verzweiflung; ich kann ihn nicht lange denken. Ich verliere
+die Fähigkeit zu atmen. Habe das Gefühl, als presse ein
+Ungeheures von innen. Die Gehirntätigkeit scheint
+ausgeschaltet. Die Hände ballen sich in tierischer Angst.
+Ich weine trocken. Die Institution des Todes ist wohl für
+manche Menschen nicht angebracht; man hätte Mittel und Wege
+finden sollen, den Tod zu umgehen. Aber &ndash; das Sterben ist
+eine Bagatelle. Nur darf nicht an den Tod denken. Wer sein
+Sterben vorbereitet.</p>
+
+</body>
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+ <title>Der Sieger</title>
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+<body>
+
+<h4>Der Sieger</h4>
+
+<p>
+I</p>
+
+<p>
+Max Mechenmal war selbständiger Geschäftsführer eines
+Zeitungskioskes. Er aß und trank gern gut; er verkehrte viel
+&ndash; allerdings vorsichtig &ndash; mit Weibern. Da sein Salär häufig
+nicht ausreichte, ließ er sich gelegentlich Geld schenken:
+Von Ilka Leipke. Ilka Leipke war eine über die Maßen kleine,
+aber gutgewachsene vornehme Dirne, die so sehr durch
+bizarres Wesen und scheinbar unsinnige Einfälle wie durch
+eigentümlich geschmackvolle Kleidung die meisten Männer und
+Mädchen erregte. Fräulein Leipke liebte den kleinen Max
+Mechenmal. Sie nannte ihn ihren süßen Zwerg. Max Mechenmal
+ärgerte sich zeitlebens, daß er klein war.</p>
+
+<p>
+Max Mechenmal entstammte einer leider verarmten Familie. Er
+hatte in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder eine
+vorzügliche Erziehung genossen, bis man ihn sehr frühzeitig
+gewaltsam entfernte. Die Gründe sind nicht überliefert; doch
+scheint die Entlassung mehr auf der Verarmung der
+Mechenmalschen Angehörigen zu beruhen als auf seiner
+unzweifelhaften Unausstehlichkeit. Er trieb sich eine Weile
+wohnungslos herum, da sich die Familie nicht mehr um ihn
+kümmerte. Den Lebensunterhalt erwarb er in der Hauptsache
+durch belanglose Diebstähle. Einmal griff ihn die Polizei
+auf. Er wurde in ein Heim für verwahrloste Kinder gebracht.
+In dem Heim wurde er zu einem Schlosser ausgebildet. Er
+verstand, sich bei den Vorgesetzten durch außergewöhnliche
+Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit einzuschmeicheln. Im
+geheimen quälte er die jüngeren und schwächeren Kameraden;
+oder er hetzte die Stärkeren gegenseitig auf. Er hatte
+keinen Freund; als er ausgelernt hatte und entlassen wurde,
+waren die anderen froh.</p>
+
+<p>
+Die ungewöhnliche Fertigkeit, die Max Mechenmal infolge
+seiner technischen Begabung in dem Anfertigen von Schlüsseln
+und dem Öffnen der schwierigsten Schlösser erlangt hatte,
+hätte er am liebsten benutzt, großartige Einbruchsdiebstähle
+zu begehen; er wäre gern ein berüchtigter Verbrecher
+geworden. Der Erlös der Einbrüche hätte ihn instand gesetzt,
+sich elegant zu kleiden, mit Weibern zu protzen. Die
+krankhaft gesteigerte Furcht, ergriffen zu werden, hinderte
+ihn. Er begnügte sich, Töchter und Mägde der Meister, bei
+denen er arbeitete, zu verführen, gefahrlose
+Gelegenheitsdiebstähle zu verüben. Sein Ehrgeiz war
+unbefriedigt.</p>
+
+<p>
+Durch einen Zufall veränderte sich die Lebensrichtung
+Mechenmals. Feierabend war. Müde und mißmutig ging er die
+Straßen. Lichter waren kaum sichtbar, obwohl es heftig
+dunkelte. In einem feinen Parterrezimmer ordnete eine ältere
+Dame die Falten ihres Leibes. Vor einem Keller sangen
+schmutzige kleine Mädchen das Lied von der Lorelei. Wie
+schwarze Tafeln mit hellen Kreuzen waren die Fenster in die
+bleichen, einschlafenden Häuser gegraben. Die Häusermassen
+glichen großen, abenteuerlichen Schiffen, die vor Anker
+liegen oder hinausgleiten in ein fernes winkendes Meer. Der
+kleine Schlosser dachte an die letzten sechs Geliebten.
+Fielen ihm gräßlich umränderte blaue Augen eines häßlichen
+verbuckelten Herrn auf, der ihn lächelnd, mit merklichem
+Behagen, dennoch etwas ängstlich betrachtete. Der Schlosser
+dachte: Nanu &ndash; spaßeshalber blieb er stehen; blickte mit
+pfiffigen Äuglein, die wie blanke schwarze Knöpfe auf seinem
+Gesicht glänzten, den noch kleineren Herrn kokett an. Der
+wurde verlegen; nahm den Hut von dem Kopf; sagte stotternd,
+sein Name sei Kuno Kohn .., Und er bäte um Entschuldigung
+&hellip; Viel mehr war nicht zu verstehen. Der Bucklige barg
+einen Teil des Gesichts hinter dürren Fingern. Er hüstelte.
+War eilig weitergegangen. Der Schlosser dachte: Nanu &ndash; er
+ging seines Wegs.</p>
+
+<p>
+Da wurde er an dem Arm gezupft. Er wandte das Gesicht: Der
+Bucklige stand wieder bei ihm, noch etwas ohne Atem von
+raschem Gehen. Kuno Kohn war ganz rot, aber er konnte ohne
+Unterbrechung sagen: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal
+belästige; ich weiß immer erst nachher, was ich sagen
+wollte.« Das redete er übermäßig laut, um die Verlegenheit
+zu überwinden. Dann sagte er: »Vielleicht haben Sie Zeit &hellip;
+Vielleicht darf ich Sie einladen, mit mir ein Gasthaus
+aufzusuchen &hellip; Oder &hellip; Sie haben doch noch nicht zu Abend
+gegessen &hellip;« Der Schlosser wendete nichts gegen den
+Vorschlag ein.</p>
+
+<p>
+In einer mächtigen Kneipe ließ Kuno Kohn für Max Mechenmal
+Essen und Bier bringen. Er selbst aß nicht, er trank wenig.
+Er sah gern zu, wie es dem Schlosser schmeckte. Streichelte
+ihn später auch wohl manchmal zaghaft an dem Kinn. Dem
+Schlosser gefiel das. Sie sprachen zunächst von dem Elend
+des Daseins, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Als
+Mechenmal das dritte Glas Bier trank, brüstete er sich mit
+seinen Geliebten. Das war dem buckligen Menschen sogar
+unangenehm. Bisher hatte er den Schlosser erzählen lassen.
+Und seine Teilnahme allein dadurch bekundet, daß er
+zustimmend die blauen Augen theatralisch schloß, wodurch für
+Sekunden nur große jämmerliche Schatten sichtbar waren, oder
+mit dem unförmigen Kopf langsam wackelte oder mitleidsvoll
+auf die Schenkel Mechenmals die nervösen Finger drückte.
+Jetzt fing er an, eigene Meinungen zu äußern. Er schimpfte
+auf die Weiber. Mit einer Stimme, die in jedem Augenblick
+aus Erregung überzuschnappen schien. Stellte den Grundsatz
+auf: Wer das Unglück habe, Weib zu sein, möge den Mut haben,
+Hure zu werden. Die Hure sei das Weib in Reinkultur.
+übrigens sei der Verkehr mit Weibern mehr oder minder
+entwürdigend. Als sie die Kneipe verließen, legte Kuno Kohn
+den harten elenden Knochen, der sein Unterarm war, auf den
+saftigen, muskulösen Unterarm Mechenmals. Ein goldenes
+Armband fiel auf das Handgelenk des Buckligen. Unterwegs
+forderte Kuno Kohn Mechenmal auf, bei ihm die Nacht zu
+verbringen. Der Schlosser ging auf das Anerbieten ein.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn bewohnte in einem Gartenhaus einer westlichen
+Nebenstraße ein großes Zimmer, in dem nichts auffiel. Nur
+das Bett war ungewöhnlich breit, fast prunkhaft. Auf den
+Kissen lagen gelbliche und rote Blumen. Vor einem Fenster
+stand ein Schreibtisch; auf ihm waren einige Bücher,
+vielleicht Baudelaire, George, Rilke; daneben und dazwischen
+lagen Papierbogen, die anscheinend mit vollendeten und
+unvollendeten Gedichten und Abhandlungen beschrieben waren.
+Auf einem Brett an einer Wand standen Bände Goethe,
+Shakespeare, eine Bibel, eine Homerübersetzung. Auf Tischen
+und Stühlen lagen wohl einige Zeitschriften und
+Kleidungsstücke. Irgendwo waren vergilbte stille
+Photographien von alten Leuten und Kindern. Der Schlosser
+sah alles neugierig an.</p>
+
+<p>
+Bald saßen sie. Die Unterhaltung, die erst lebhaft war,
+stockte allmählich. Kuno Kohn drehte die Lampe klein. Später
+redete er weich und flehend dem Schlosser zu. Nachher bot er
+ihm das Bett an. Er selbst werde auf dem Sofa schlafen. Der
+Schlosser war einverstanden.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn verschaffte seinem Freund Mechenmal eine
+untergeordnete Stellung bei einem Zeitungsverlag.
+überraschend schnell arbeitete sich Mechenmal in den neuen
+Beruf ein, erlangte sehr bald genügende kaufmännische
+Kenntnisse. Wechselte Stellungen. Erreichte durch Energie
+und allerhand Gemeinheiten, daß er schon nach einem Jahr und
+wenigen Monaten als selbständiger Geschäftsführer eines
+Zeitungskioskes eine Vertrauensstellung bekleidete.</p>
+
+<p>
+II</p>
+
+<p>
+Durch die angenehme Art zu sprechen wie durch sein
+intelligentes Puppengesicht hatte sich der ehemalige
+Schlosser bald eine unverhältnismäßig große Stammkundschaft
+erworben, zu dem größten Teil weiblichen Geschlechts.
+Morgens umstanden seinen Kiosk ein Dutzend Verkäuferinnen
+eines nahen Warenhauses, die absichtlich zu früh gekommen
+waren, um sich über die Zoten und fidelen Glossen des Herrn
+Mechenmal zu freuen. Der Bankbeamte Leopold Lehmann, der
+stets pünktlich um acht Uhr kam, um illustrierte Witzblätter
+und theologische Streitschriften zu kaufen, wurde manchmal
+ungeduldig, weil die lustigen Verkäuferinnen ihn bei dem
+Aussuchen störten. Und der Gymnasiast Theo Tontod, der
+unermüdlich, in der Regel vergeblich, nach der modernen
+Zeitschrift: »Das andere A« fragte, kam oftmals zu spät in
+die Schule. &ndash; Gegen Mittag erschien fast täglich die
+Choristin Mabel Meier an dem Arm eines alten Mannes. Sie
+kaufte bunte, pikante Zeitschriften oder gefühlvolle mit
+langen lyrischen Gedichten. Der alte Mann, der immer
+wehleidig blickte, bezahlte seufzend. Sie verhielt sich
+Mechenmal gegenüber zurückhaltend. &ndash; Manchmal kam auch Mieze
+Maier, ein Backfisch, und fragte, ob Herr Tontod dort
+gewesen sei. Einmal blieb Mieze Maier länger; von der Zeit
+an häufiger. &ndash; Zu unbestimmten Stunden war ein dickes
+gemütliches Dienstmädchen des Kaufmanns Konrad Krause an dem
+Kiosk. Und sagte zu Mechenmal, er sei hübsch; er habe
+leidenschaftlich schwarze Augen und einen Knutschmund; ob er
+Sonntags nicht Laune habe, tanzen zu gehen; es liebe ihn
+sehr. Mechenmal antwortete, er werde die Neigung von
+Fräulein Frida gelegentlich erwidern. Das Dienstmädchen
+erinnerte ihn peinlich oft an sein Versprechen. &ndash; An jedem
+Dienstagnachmittag forderte ein sonderbarer Herr Simon, der
+in einem offenen Sanatorium wohnte und stets von einem
+Wärter begleitet wurde, Zeitschriften für Bestattungswesen;
+wenn nicht genügend vorhanden waren, entfernte er sich sehr
+ungehalten und auf die Krematorien schimpfend. &ndash; Auch Kuno
+Kohn kam mehrmals in jeder Woche; seltener, um zu kaufen,
+hauptsächlich um seinen Freund zu besuchen und für die
+Abende Zusammenkünfte zu verabreden. &ndash; Studenten, Damen,
+Offiziere, Arbeiter kauften ihre Zeitungen. Nur Ilka Leipke
+war trotz wiederholter Aufforderungen Mechenmals nicht zu
+bewegen, zu dem Kiosk zu kommen.</p>
+
+<p>
+Das war eine Laune von Ilka Leipke. Sie hatte ja viel Zeit
+und klagte dem Geliebten manches Mal, die Tage seien noch
+langweiliger als die Nächte. Auch liebte Ilka Leipke ihren
+süßen Zwerg nicht etwa weniger als in den ersten Zeiten
+ihrer Bekanntschaft. Obwohl Mechenmal sie immer herrischer
+behandelte, immer gemeiner zu ihr wurde. Zuletzt machte ihm
+Freude, wenn sie weinte; er war niemals zufrieden, ehe er
+sie dazu gebracht hatte. Dann vergnügte er sich, sie wieder
+zu trösten. Hinterher war er allerdings sehr gut zu ihr, er
+liebte sie im Grunde. Er ließ sich von Ilka Leipke sanft
+streicheln und küssen. Er war ein bißchen größer als sie,
+aber sie hatte ihn auf ihrem Jungenleib wie ein Kind. Sie
+erzählten einander. Sie lachten. Sie küßten. Viele Male
+untersuchten sie die Geschichte ihrer Begegnung. Sie
+entdeckten tausend neue Einzelheiten oder logen sich solche
+vor, weil dies schön war. Das Fräulein suchte aus einem
+Kästchen, in dem keine Sachen lagen, einen
+Zeitungsausschnitt hervor, auf dem zu lesen war:</p>
+
+<p>
+Heiratsgesuch.</p>
+
+<p>
+Ein junger, etwas kleiner, sehr hübscher Mann, des
+Alleinseins müde, erstrebt gleichartige Dame zwecks
+ehrenwerter Heirat. Auf größeres Vermögen wird gesehen.
+Freundliche Offerten nimmt entgegen Max Mechenmal.</p>
+
+<p>
+Oder Herr Mechenmal nahm aus der Brieftasche ein blaues
+Briefchen mit lilaroten Tupfen, das er schmunzelnd dem
+Fräulein hinhielt. Fräulein Leipke las dann wohl mit leiser,
+verliebter Stimme:</p>
+
+<p>
+Sehr geehrter Herr!</p>
+
+<p>
+Soeben Ihr Heiratsgesuch gelesen. Mit Vermögen kann ich zu
+meinem Bedauern nicht aufwarten. Ich meinerseits würde
+dagegen gern auf das Heiraten Verzicht leisten, das ich noch
+nicht nötig habe. Ich bin von Beruf Weib (Berufsweib). Auch
+meine Statur ist klein (aber oho!). Ich bin der Kavaliere
+müde, suche mich deshalb nebenbei mit einem regulären Mann
+in Verbindung zu setzen. Sollte Ihnen mein Erbieten genehm
+sein, senden Sie mir bitte Ihre Photographie. Ich verbleibe
+Ihre ergebene Ilka Leipke.</p>
+
+<p>
+Wenn sie sich genug angefaßt und geküßt hatten, erfanden sie
+Spiele. Ilka Leipke machte sehr talentvoll dem selig
+kichernden Mechenmal vor, wie sich ihre Freundinnen in
+entsprechender Lage verhalten würden. Sie krümmte sich in
+den überraschendsten Stellungen. Verbog das Gesicht zu den
+komischsten Grimassen &hellip; Mechenmal konnte stundenlang
+erdachte Namen hersagen, mit denen er bestimmte Teile ihres
+Körpers in Gegenwart anderer bezeichnen wollte, ohne daß
+diese merken sollten, was er meinte. &ndash; So vergingen die
+Abende und Nächte, in denen Ilka Leipke sich für ihren
+Freund freigemacht hatte. Oft fehlte dem Mechenmal die Zeit,
+nach Hause zu gehen. Dann stand sie auf, wenn er noch
+schlief. Kochte Kaffee. Holte in Morgenschuhen und nur mit
+einem alten Theatermantel bedeckt von einem Bäcker Backwerk.
+Legte eine weiße Decke auf den Tisch. Ordnete alles
+appetitlich. Machte einige Brote zurecht &ndash; zum Mitnehmen.
+Verschwand wieder in ihrem Bett, wo sie bis in den
+Nachmittag hinein schlief. Mechenmal aber eilte etwas
+abgespannt und müde, doch in gehobener Stimmung zu seinem
+Kiosk.</p>
+
+<p>
+III</p>
+
+<p>
+Später Abend kroch wie eine Spinne über die Stadt. In dem
+Schein der Kohnschen Lampe war der etwas über den Tisch
+gebeugte Oberkörper Kuno Kohns. Auf dem Sofa lag, den
+Lampenkreis durchbrechend und aus ihm herausgelehnt, der
+halbfinstere Max Mechenmal. Fenster blinkten in üppigem,
+fließendem Schwarz. Aufgeschwollen und verschwommen ragten
+einige Gegenstände aus der Dunkelheit. Das offene Bett
+leuchtete weiß. Kohns Hände hielten beschriebenes Papier.
+Seine Stimme tönte leise, schwärmerisch, in singendem
+Pathos. Er wurde oft heiser und hustete, wie einer, der viel
+gelesen hat. Zu hören war: »Die alten, prächtigen
+Geschichten von Gott sind totgeschlagen. Wir dürfen ihnen
+nicht mehr glauben. Aber die Erkenntnis des Elends, glauben
+zu müssen, bedrängt uns &ndash; die Sehnsucht nach neuem,
+stärkerem Glauben. Wir suchen. Wir können nirgends finden.
+Wir grämen uns, weil wir hilflos verlassen sind. Komme doch
+einer, lehre uns Ungläubige, Gottsüchtige.« Kohn war
+erwartungsvoll still. Mechenmal hatte sich während des
+Vorlesens insgeheim amüsiert. Jetzt platzte er vernehmlich.
+Er sagte dann: »Nimm mir das nicht übel, Kohnchen. Aber du
+hast doch komische Einfälle. Das ist doch verrückt.« Kohn
+sagte: »Du hast kein Gefühl. Du bist ein oberflächliches
+Wesen. Im übrigen ist sicher, daß auch du psychopathisch
+bist.« Max Mechenmal sagte: »Was heißt das?« Kuno Kohn
+sagte: »Das wirst du schon noch merken.« Max Mechenmal sagte
+nur: »Ach so.« Er ärgerte sich, daß ihn Kuno Kohn
+oberflächlich genannt hatte. Er dachte an Ilka Leipke.</p>
+
+<p>
+Da sagte Kuno Kohn: »Der Tod ist ein unerträglicher Gedanke.
+Für uns Gottlose. Wir sind verdammt, ihn in hundert Nächten
+vorzuerleben. Und finden keinen Weg über ihn&hellip;« Er schwieg
+schwer. Mechenmal wollte seinem Freund Kohn beweisen, daß er
+sogar über abseitige Probleme sich äußern könne. Er
+überlegte. Und sagte: »Ich habe eine andere Auffassung,
+Kunlein Kohnchen. Allerdings ist das Gefühlssache. Auch ich
+zähle mich Gott sei Dank zu den Gottlosen. Gott ist Quatsch.
+Darüber ein Wort zu verlieren, ist eines denkenden Menschen
+unwürdig. Aber ich, höre, habe Gott nicht nötig &ndash; nicht zu
+dem Leben, nicht zu dem Sterben. Tod ohne Gott ist
+wunderschön. Er ist mein Wunsch. Ich denke mir herrlich,
+einfach tot zu sein. Ohne Himmel. Ohne Wiedergeburt. Radikal
+tot. Ich freue mich darauf. Das Leben ist für mich zu
+anstrengend. Ist zu aufregend &hellip;«</p>
+
+<p>
+Er wollte weiterreden. An die Türe wurde geklopft. Kohn
+öffnete. Ilka Leipke trat hastig hinein. Sie sagte: »Guten
+Abend, Herr Kohn. Entschuldigen Sie, daß ich störe.« Sie
+schrie zu Mechenmal: »Hier also ertappe ich dich. So
+verlässest du mich. Du benutzest nur meinen Leib. Meine
+Seele hast du niemals gefaßt.« Sie weinte. Sie schluchzte.
+Mechenmal versuchte, sie zu beruhigen. Das erregte sie noch
+mehr. Sie rief. »Mit einem krummen Kohn mich zu betrügen &hellip;
+Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, Herr Kohn. Schämen
+Sie sich &ndash; ihr Schweine &hellip;« Sie hatte einen Weinkrampf.
+Kuno Kohn war unfähig, etwas zu erwidern. Mechenmal riß sie
+von dem Boden, auf den sie sich schreiend geworfen hatte. Er
+sagte mit veränderter harter Stimme, ihr Benehmen sei
+ungehörig. Sie habe keinen Grund zur Eifersucht. Er sei sein
+freier Herr. Da sah Ilka Leipke den buckligen Kohn demütig
+wie ein geschlagenes Hündchen an. War ganz still. Folgte dem
+erbosten Mechenmal hinaus.</p>
+
+<p>
+Als Kohn allein war, wurde er allmählich wütend. Er dachte:
+Solch freche Person &hellip; Und in Zwischenräumen: Wie sich die
+Kuh aufgeregt hat. Wie eifersüchtig sie auf mich ist. Eins
+der seltenen Weiber, die mir behagen&hellip; Und wählt das
+Tierchen Mechenmal. Das ist scheußlich &ndash;</p>
+
+<p>
+in der Frühe des nächsten Tages stand Kuno Kohn, zitternd
+wie ein Schauspieler, der Lampenfieber hat, in dem Salon des
+Fräuleins Leipke. Fräulein Leipke las, als die Zofe die
+Karte Kuno Kohns brachte, gerade die verbotene Broschüre:
+»Der Selbstmord einer schicken Dame. Oder wie eine schicke
+Dame Selbstmord begeht«. Sie hatte verweinte Augen. Als sie
+die ganze Broschüre gelesen hatte, puderte sie sich frisch.
+Endlich erschien sie, nur durch ein seidenes Morgenkleid
+verhüllt, in dem Salon. Kuno Kohn war rot bis an die Ohren.
+Er sagte stöhnend, er sei gekommen, den gestrigen Auftritt
+zu entschuldigen. Fräulein Leipke tue ihm Unrecht, sie kenne
+ihn zu flüchtig. Er habe immerhin innere Werte. Dann sprach
+er lobend von seinem Freund, dem guten Mechenmal; ließ aber
+durchblicken, daß diesem leider ein ausgebildetes
+Gefühlsleben mangele. Fräulein Leipke sah ihn mit lockenden
+Augen an. Er brachte das Gespräch auf die Kunst. Dann
+brachte sie das Gespräch auf ihre Beine; sie sagte
+freimütig, sie habe ihre Beine selbst gern. Sie hatte das
+Morgenkleid etwas zurückgeschlagen. Kuno Kohn hob es mit
+scheuen Händen vorsichtig höher &ndash;</p>
+
+<p>
+als Abend geworden war, saß Kuno Kohn verträumt in seinem
+Zimmer. Er schaute aus dem offenen Fensterloch. Vor ihm fiel
+die graue Innenwand des Hauses hinunter, in kurzem Abstand.
+Mit vielen stillen Fenstern. Himmel war nicht, nur
+schimmernde Abendluft. Und wenig weicher Wind, der fast
+nicht zu fühlen war. Die Wand mit den Fenstern glich einem
+schönen, traurigen Bild. War gar nicht langweilig, darüber
+wunderte sich Kuno Kohn. Er stierte immer tief in die Wand.
+Lieb sah sie aus. Zutraulich. Voll von Einsamkeit. Er dachte
+heimlich: Das macht der Wind, der um die Wand ist. Er sang
+innen: Komm, Geli &hellip; Iebte &ndash; klingeln
+erschreckte ihn.</p>
+
+<p>
+Der Postbote brachte einen Brief von dem Klub Clou. Der Klub
+Clou forderte Herrn Kohn auf, als Gast des Klubs an einem
+bestimmten Abend aus seinen Werken vorzulesen.</p>
+
+<p>
+IV</p>
+
+<p>
+Acht Tage vor dem Vortragsabend war auf den Anschlagsäulen
+der Stadt ein Plakat. Auf ihm konnte man lesen:</p>
+
+<p>
+Voranzeige.<br />
+Kuno Kohn wird in dem Klub Clou aus eigenen Werken
+vorlesen. Junge Mädchen und Rechtsanwälte höflichst
+verbeten.</p>
+
+<p>
+Je näher der Abend der Vorlesung herannahte, desto
+aufgeregter wurde Kuno Kohn. Zwei Stunden vorher ließ er
+sich rasieren. Als der Mann fragte, ob der Herr Puder
+beliebe, sagte Kohn kopfschüttelnd: »Ja &ndash;« eine Stunde
+vorher verlangte Kohn in einem Polizeibureau zehn
+Fünfpfennigmarken und eine Zehnpfennigkarte.</p>
+
+<p>
+Als Kohn das Podium betrat, war er ruhiger, als er erwartet
+hatte. Zuerst versprach er sich manchmal. Aber seine Stimme
+wurde allmählich fest und deutlich. Der kleine Saal war
+wenig besucht; doch waren einige Kritiker der großen,
+maßgebenden Presse erschienen. Einer erklärte an dem
+nächsten Tage in der verbreiteten »Alten Bürgerzeitung«: Die
+Dichtungen, die der um seines Gebrestes willen
+bedauernswerte Dichter Kohn in einem dürftig besuchten Saal
+zu Gehör gebracht habe, seien zwar noch nicht reif für die
+Öffentlichkeit; hingegen könne man später einmal, wenn der
+Kohn sich geklärt habe, einiges von seiner Muse erwarten. &ndash;
+Ein anderer verkündete in der »Zeitung für erhellte Bürger«:
+Der Gesamteindruck sei ein erfreulicher, doch seien die
+Dichtungen nicht gleichmäßig gelungen. Auch habe der Dichter
+nicht gut vorgelesen. Jedoch sei die erste Zeile des ersten
+Verses des Gedichtes »Der Komiker« von einer erschütternden
+Prägnanz in Ausdruck und Gefühl.</p>
+
+<p>
+Nach der Vorlesung dankte der Vorsitzende des Klubs, der
+begabte Doktor Bryller, dem Dichter, den er ein kommendes
+Genie nannte. Eins der wenigen, die er persönlich kenne.
+Ilka Leipke hatte sich trotz des Verbotes der jungen Mädchen
+den Zutritt auf irgendeine Weise verschafft. Auch Mechenmal,
+der zuerst gesagt hatte, er werde nicht kommen, war
+erschienen. In der Pause hatte er aber erklärt, er habe
+Hunger. Und er gehe jetzt. Ob sie noch nicht genug von dem
+Unsinn habe. Wenn sie nicht mitkommen wolle, möge sie
+dableiben. Sie scheine sich plötzlich für Kohns Buckel zu
+interessieren. Er wünsche viel Glück. Und ob er den Kuppler
+spielen solle. Er ging wirklich. Ilka Leipke weinte ein
+bißchen für sich, blieb bis zuletzt. Sie klatschte
+begeistert. Sie hatte Kohn an diesem Abend lieb. Nahm ihn in
+sonderbarer Stimmung in ihre Wohnung.</p>
+
+<p>
+Gegen Morgen hüpfte ein kleiner buckliger Herr wie ein
+Ballettänzer auf grauen unsicheren Straßen &hellip;</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn vermied von nun an Begegnungen mit Mechenmal. Er
+lud ihn nicht mehr ein. Zeitungen kaufte er in einem anderen
+Kiosk. Dem Mechenmal war das ganz recht. Seine Geliebte
+hatte ihm mit aufreizendem Lächeln erzählt, daß sie eine
+schöne Nacht mit dem Buckligen in ihrem Schlafzimmer verlebt
+habe. Der Buckel sei ihr nicht unangenehm gewesen, er sei
+nicht so groß und häßlich, wie er bei oberflächlicher
+Betrachtungsweise erscheine. Man könne sich sehr an einen
+Buckel gewöhnen. &ndash;</p>
+
+<p>
+Mechenmal war wütend auf Kohn. Zu Ilka Leipke wurde er
+zärtlicher und nachgiebiger. Er zeigte ihr seine Eifersucht
+nicht, erwähnte nie den Namen des Nebenbuhlers. Ilka Leipke
+war glücklich. Sie dachte an die betrunkene Nacht mit Kohn
+nicht mehr. Kohn war ihr jetzt nicht weniger zuwider als
+früher, sie wies weitere Bemühungen des Dichters
+gleichgültig zurück. Mechenmal gegenüber tat sie, als sei
+sie noch immer sehr verliebt in Kohn. Einmal aber konnte sie
+einen unanständigen Witz über Kohn und seinen Buckel nicht
+unterdrücken. Mechenmal lachte herzlich.</p>
+
+<p>
+Kohn war traurig an ein Meer gefahren. Ein Verleger hatte
+ein unerwartet günstiges Angebot gemacht und Vorschuß
+gezahlt. Mechenmal fand zufällig ein Gedicht, das Kohn von
+dem Meer an Ilka Leipke geschickt hatte. Er las:</p>
+
+<p>
+Lied der Sehnsucht</p>
+
+<p>
+die Falten des Meeres platzen wie Peitschen auf meiner Haut.
+Und die Sterne des Meeres reißen mich auf.</p>
+
+<p>
+Von schreienden Wunden ist der Abend des Meeres Einsamen.
+Aber die Liebenden finden den guten verträumten Tod.</p>
+
+<p>
+Sei bald da, Schmerzäugige. Das Meer tut so weh.<br />
+Sei bald da, Liebleidende. Das Meer erschlägt mich so.</p>
+
+<p>
+Deine Hände sind kühle Heilige. Hüll mich mit ihnen. Das
+Meer brennt auf mir.<br />
+Hilf doch &hellip; Hilf doch &hellip; Deck mich. Rette mich. Heil
+mich, Freundin.</p>
+
+<p>
+Mutter &ndash; du &hellip;</p>
+
+<p>
+Er zerriß es. Ilka Leipke war entrüstet. Sie sagte,
+Mechenmal sei grob. Der Kleine hatte sie bald durch
+Liebkosungen besänftigt. Später setzte er sich an den
+Schreibtisch des Fräulein. Er nahm einen ihrer Briefbogen
+und schrieb:</p>
+
+<p>
+An Kuno Kohn.</p>
+
+<p>
+Fräulein Leipke, meine Braut, läßt dir hierdurch sagen, daß
+sie auf weitere Gedichte gern verzichte; sie erfüllen ihren
+Zweck bei weitem nicht. Meine Braut hat mir alles erzählt.
+Sei versichert, daß deine Liebesbewerbungen auf uns
+lächerlich wirken. Max Mechenmal.</p>
+
+<p>
+Als Mechenmal den Brief in den Postkasten gesteckt hatte,
+wurde er unruhig. Er fürchtete, unvorsichtig gehandelt zu
+haben.</p>
+
+<p>
+Kohn kam sofort zurück. Er lief zu Ilka Leipke. Zeigte den
+Brief. Fragte heulend, ob sie die Nacht mit ihm vergessen
+habe. Sie sagte: »Ja.« Er jammerte. Er weinte unverständlich
+von Seele und Selbstmord. Ilka Leipke wies ihn hinaus. Seine
+Schwachheit war ihr lästig; sie hatte schon als Kind nicht
+mit ansehen können, wenn jemand weinte.</p>
+
+<p>
+Aber sie ärgerte sich über Mechenmal. Sie fing an, ihn
+wieder mit Kohn zu necken. Behauptete, Kohn sei häufig ihr
+Gast; und sie finde ihn immer noch nett. Mechenmal hielt
+ihre Erzählungen für wahr. Er haßte den Kohn jetzt.</p>
+
+<p>
+Er überlegte, wie er den Buckligen beseitigen könne, ohne
+daß er als der Beseitiger hervortrete. Nach nicht viel Zeit
+hatte er wohl das Rezept gefunden. An einem Sonntag starb
+Kohn. Plötzlich, aber ohne auffallende Nebenumstände. Sein
+Leichnam wurde anstandslos für die Beerdigung freigegeben.
+In der Zeitschrift »Das andere A« widmete Theo Tontod dem
+Dichter einen kürzeren Nachruf. Und der Klub Clou schickte
+einen Kranz. Ilka Leipke ließ sich nicht nehmen, die Leiche
+vor der Bestattung noch einmal zu betrachten. Der Sarg wurde
+bereitwillig geöffnet. In ihm lag Kohn infolge des Buckels
+etwas schief. Die Gesichtszüge waren fratzenhaft gezerrt.
+Die Hände waren geballte Klumpen. An der Nase klebte
+geronnenes Blut, hing über den geöffneten Mund. Ilka Leipke
+überwand den Ekel. Sie ließ Benzin kommen, nahm ein seidenes
+Tüchlein aus der zierlichen Handtasche, tauchte es in die
+Benzinflasche. Säuberte mit dem Tüchlein die tote Nase. Dann
+ging sie hinweg. Beruhigt und etwas weinend. Zufrieden mit
+ihrer Güte.</p>
+
+<p>
+Als Mechenmal von dem Tod Kohns hörte, wurde er sehr
+ängstlich. Er konnte sich in der Stube nicht ertragen. Und
+ging eiligst aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zigarre in
+Brand gesteckt zu haben. Kirchenglocken klangen von dem
+sonnigen Himmel. Mechenmal war kalt und bleich. Er dachte
+immerzu: Wenn es nur nicht herauskommt. Oder er überlegte,
+wohin er fliehen könne. Er dachte an Gerichtsverhandlung, an
+Verteidiger, an Zuchthaus, Ketten, Kassiber, Henker. Daß er
+als letzte Gnade erbitten würde, noch einmal mit Ilka Leipke
+schlafen zu dürfen. Er lief durch die Straßen, als suche er
+einen einzuholen. Wenn er daran dachte, daß er nicht
+auffallen dürfe, ging er plötzlich zu langsam. Ihm schien,
+als beobachteten ihn alle Leute.</p>
+
+<p>
+In einem Garten rangen zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen.
+Als sie Mechenmal sahen, setzten sie sich flink auf eine
+Bank. So ließen sie ihn näher kommen. Als er dicht genug
+war, lachten sie ihn an; eine zappelte mit den Beinen. Er
+eilte vorüber. Da schrie eine hinter ihm her: »Sieh doch,
+wie rasch der Mann geht.« Und die andere schrie, ebenso
+ratlos: »Na ja. Er raucht.« Sie sahen ihm noch nach. Dann
+rangen sie wieder.</p>
+
+<p>
+Mechenmal beruhigte sich allmählich. Er dachte: Man kann mir
+nichts beweisen. Ich leugne alles. Hoho! Wer kann mir etwas
+beweisen &hellip; Selbst wenn sie überhaupt etwas merken! &ndash; Er
+warf die Zigarre weg. Er fühlte sich sicherer. Er pfiff vor
+sich hin bei dem Gedanken, daß Kohn sich nicht mehr rühren
+könne. Daß er, Max Mechenmal, die Schwierigkeit Kohn so
+gründlich überwunden habe. Er dachte daran, daß er das Leben
+richtig anpacke. Daß ihm alles glücke. Er hatte gewaltiges
+Zutrauen zu sich. Er dachte: Nur keine Sentimentalitäten. Um
+anständig leben zu können, muß man ein Schuft sein.</p>
+
+<p>
+Er ging ganz lustig nach Hause.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Café Klößchen</title>
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+<body>
+
+<h4>Café Klößchen</h4>
+
+<p>
+I</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen,
+weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Haus empfand sie
+alles spießig, eng, verblödend. Die Herren waren dumm. Der
+Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage
+wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin
+sein bedeutete ihr: Klug sein, frei sein, glückselig sein.
+Wie das ist, wußte sie nicht. Ob sie Talent habe, prüfte sie
+nicht.</p>
+
+<p>
+Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt
+wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb,
+er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller
+seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern
+mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus;
+sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen. Man
+versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen.
+Es gelang nicht. Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab
+unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein
+kleines Zimmer in einem großen Pensionat, meldete sie in
+einer billigen Theaterschule an. Der Vetter Schulz wurde
+gebeten, sich ihrer anzunehmen.</p>
+
+<p>
+Herr Schulz war häufig mit Cousine Liblichlein zusammen. Er
+führte sie in Kabaretts; las Gedichte vor; zeigte seine
+Bohemebude; bestellte sie in das Literatencafé Klößchen;
+ging mit ihr Hand in Hand stundenlang durch die nächtlichen
+Straßen; betastete sie; küßte sie. Fräulein Liblichlein war
+von allem Neuen angenehm betäubt; bald fiel ihr ein, daß sie
+sich das meiste schöner vorgestellt hatte. Verdrießlich war
+ihr schon anfangs, daß der Direktor der Theaterschule, die
+Kollegen, die Literaten des Café Klößchen &ndash; alle Männer, mit
+denen sie häufiger zusammentraf, ein Vergnügen darin fanden,
+sie anzufassen, ihre Hände zu streicheln, die Knie an ihre
+Knie zu drücken, sie unverschämt anzusehen. Sogar die
+Berührungen des Schulz wurden ihr lästig.</p>
+
+<p>
+Um ihn nicht zu kränken, auch um nicht kleinstädtisch zu
+wirken, gab sie ihm das selten zu verstehen. Aber einmal
+schlug sie ihm heftig auf das Gesicht. Sie waren in seinem
+Zimmer, er hatte ihr gerade die letzten Zeilen seines
+Gedichtes »Müdigkeit« erklärt. Die waren:</p>
+
+<p>
+Der Abend steht vor meinem Fenster, grauer Mann! Am besten
+ist wohl, wenn wir schlafen gehen &ndash;</p>
+
+<p>
+danach hatte er versucht, ihr die Bluse abzuziehen. Der
+Schulz war über den Schlag recht bestürzt. Er sagte, fast
+weinend, sie müsse gemerkt haben, daß er sie liebe. Außerdem
+sei er ihr Vetter. Sie sagte, das Öffnen der Bluse behage
+ihr nicht. Zudem habe er einen Knopf abgerissen. Er sagte,
+er halte das nicht mehr aus. Wenn man einen liebe, müsse man
+sich ihm hingeben. Er werde bei Kokotten Vergessen suchen.
+Sie wußte keine Antwort. Er dachte stöhnend: O, o. Sie saß
+betrübt neben ihm.</p>
+
+<p>
+In den nächsten Tagen ließ er sich nicht sehen. Als er
+wiederkam, war er bleich und grau. Die blutleeren roten
+Augen lagen tränend in schmierigen Schatten. Die Stimme
+hatte nur einen Singsangton, der klang maniriert
+melancholisch. Schulz sprach kläglich schwärmend von
+Verzweiflung, Hurerei, Zerrissensein. Daß er der
+Lebensfreude überdrüssig sei. Daß er seinen Tod bald
+eingeholt haben werde. Er vermied Zärtlichkeiten, aber er
+seufzte oft schmerzlich. Kokettierte theatralisch mit einer
+Sehnsucht nach dem Sterben. Führte die Freundin in
+leichenreiche Trauerspiele, in düstere Kinodramen, in ernste
+Konzerte in verdunkelten Sälen.</p>
+
+<p>
+Eine Woche war vielleicht vergangen. Eine Dame hatte
+gesungen. Die Hände der Zuhörer knallten laut und lange.
+Gottschalk Schulz faßte leidenschaftlich einige Finger Lisel
+Liblichleins, legte sie gütig auf einen Schenkel seiner
+Beine, sagte: »Ist es nicht eigenartig, wie der Gesang einer
+Dame einem an die Seele greift!« Dann fing er wieder an,
+bittend und weinerlich von Liebe und Hingebung zu reden.
+Lisel Liblichlein sagte, dies sei ihr langweilig oder
+ekelhaft. Aus Mitleid &ndash; und weil sie hinaufgehen wollte &ndash;
+erklärte sie schließlich in der Haustür, mit der Liebe sei
+sie einverstanden, wenn er auf die Hingebung verzichte.
+Schulz drückte sie glücklich an sich. Er stand noch lange
+träumend da. Er sang: »O Tränen. O Güte. O Gott. O
+Schönheit. O Liebe. O Liebe. O Liebe &hellip;« Er stürzte durch
+die Straßen. In dem Klößchen war er verschwunden.</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein aber saß in ihrem kleinen Zimmer
+unbeholfen lächelnd bei einem rötlichen Talglicht. Sie
+begriff diese Menschen der Stadt nicht, die schienen ihr
+seltsame, gefährliche Tiere. Sie fühlte sich verlassen und
+einsamer als früher. Sie dachte sehnsüchtig an die harmlose
+Heimat: An den luftigen Himmel, an die lächerlichen jungen
+Herren, an die Tennisturniere, an die wehmütigen
+Sonntagnachmittage &hellip; Sie knöpfte die Strumpfhalter ab,
+legte das Leibchen auf einen Stuhl. Sie war trostlos.</p>
+
+<p>
+II</p>
+
+<p>
+In einem durchsichtigen Sommerabend war das leuchtende Café
+Klößchen. Stadthimmel aus dunkelblauer Seide, auf dem weißer
+Mond und viele kleine Sterne lagen, umhüllte es. In einem
+Hintergrund saß, lange Zeit, bevor er plötzlich starb,
+einsam und rauchend bei einem winzigen Tisch, auf dem etwas
+stand, der bucklige Dichter Kuno Kohn. Um andere Tische
+hockten Leute. Dazwischen bewegten sich Männer mit gelben
+und roten Schädeln; Weiber; Literaten; Schauspieler. überall
+huschten schattige Kellner.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn war ohne viel Gedanken. Er summte für sich: »Ein
+Nebel hat die Welt so weich zerstört.« &ndash; Da begrüßte ihn der
+Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, der durch alle
+Examina, denen er sich unterzogen hatte, mühevoll gefallen
+war. Mit ihm kam ein schönes Fräulein. Die beiden setzten
+sich zu Kohn. Schulz und Kohn waren Mitarbeiter der von dem
+kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der
+Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«.
+Schulz erzählte dem Kohn, daß der Dackel-Laus demnächst eine
+gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage erfinden
+werde, zwecks Organisation eine konstituierende Versammlung
+in einem nahen Kintopp einberufen wolle. Kohn hörte
+kopfschüttelnd zu. Das schöne Fräulein aß Kuchen. Kohn sagte
+traurig: »Laus ist ein Großer und Rührender. Aber gläubig
+kann uns kein Jesus mehr machen. Wir sterben mit jedem Tage
+tiefer in den öden ewigen Tod ein. Wir sind hoffnungslos
+zerrüttet. Unser Leben wird ein sinnloses Schau-Spiel
+bleiben.« Das essende Fräulein sah mit fröhlichem,
+deutlichem Gesicht aus rotbraunen Augen verständnislos
+hinüber. Schulz war in trübselige Gedanken versunken. Das
+Fräulein sagte, auch ihr ganzes Leben sei das Schauspiel. So
+sinnlos könne sie dies nicht finden. In der Theaterschule,
+in der sie sich auf die Bühnenlaufbahn als sentimentale
+Liebhaberin vorbereite, werde Tüchtiges geleistet. Herr Kohn
+möge einmal hinkommen, um sich davon zu überzeugen. Kuno
+Kohn blickte das Fräulein eine Weile innig an. Er dachte:
+»Solch kleines dummes Fräulein &hellip;« Er ging aber bald weg.</p>
+
+<p>
+Draußen hielt ihn plötzlich der Lyriker Roland Rufus Müller
+erregt an einem Arm fest, er rief: »Haben Sie die Kritik
+eines gewissen Bruno Bibelbauer in der medizinischen
+Monatsschrift gelesen, in der behauptet wird, meine Paranoia
+bestehe darin, daß ich mir einbilde, Paralyse zu haben! Alle
+Menschen sehen mich merkwürdig an, ich bin berühmt. Mein
+Verleger gibt mir viel Vorschuß. Aber &ndash; ach, ich darf es
+nicht sagen &ndash; ich bin unheilbar.« Er lief schleunigst in ein
+besseres Weinrestaurant.</p>
+
+<p>
+Ein Pferd humpelte wie ein alter Mensch vor einem Wagen. Der
+bucklige Kohn lehnte lässig an einer katholischen Kirche,
+überlegte das Dasein. Er sagte sich: »Wie drollig ist
+dennoch das Dasein. Und da lehnt man nun; irgendwo;
+irgendwie; ohne Beziehung; ganz belanglos; könnte ebenso
+gut, ebenso schlecht weiterschreiten; irgendwohin. Das macht
+mich unglücklich.« &ndash; Vor ihm war ein kleiner lautloser
+Hurenhund stehengeblieben, hatte mit glimmenden Augen
+demütig zugehört.</p>
+
+<p>
+Eine feurige gläserne Brautkutsche hüpfte vorbei. Innen, in
+einer Ecke, sah er das bleiche geschlossene Gesicht eines
+Bräutigams. Eine leere Droschke kam, der Kohn ging
+hinterher. Er sagte leise: »Ein Sucher ohne Ziel &hellip; Ein
+Haltloser&hellip; Unbekannt mit allem &hellip; Man hat eine furchtbare
+Sehnsucht. O wüßte man wonach.«</p>
+
+<p>
+Die Straßen schimmerten schon weißlich, als er die Tür des
+Hauses, in dem er wohnte, öffnete. In seinem Zimmer sah er
+die Bilder von lauter gestorbenen Menschen, die an einer
+Wand befestigt waren, schweigsam und feierlich traurig an.
+Dann begann er, die Kleidungsstücke von dem Buckel zu
+nehmen. Als er nur noch mit Unterhosen, Hemd, Socken bedeckt
+war, sagte er murmelnd und seufzend: »Allmählich wird man
+wahnsinnig &ndash;«</p>
+
+<p>
+in dem Bett nahm das Denken ab. Ihm fielen für das
+Einschlafen die rotbraunen Fräuleinaugen aus dem Café
+Klößchen ein&hellip;</p>
+
+<p>
+Diese Augen leuchteten auch in den folgenden Tagen sonderbar
+oft in seinem Hirn. Das wunderte ihn. Erschreckte ihn. Sein
+Verhältnis zu Frauen war eigenartig. Im allgemeinen hatte er
+sogar einen Widerwillen gegen sie, es trieb ihn zu Knaben.
+Aber in gewissen Sommermonaten, wenn er zu innerst
+zerbrochen und unselig war, verliebte er sich häufig in ein
+junges kindhaftes Weib. Da er infolge seines Buckels zumeist
+abgewiesen, oft sogar verhöhnt wurde, war die Erinnerung an
+diese Frauen und Mädchen entsetzlich. Er nahm sich daher zu
+diesen Zeiten in acht. Ging zu Dirnen, wenn er Gefahr
+fühlte.</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein hatte ihn überrumpelt, ohne eine Ahnung
+davon zu haben. Vergeblich dachte er an die Qualen der
+Mißerfolge. Vergeblich stellte er sich vor, daß Lisel
+Liblichlein eins der vielen, zierlichen, in wundervolle
+Unwissenheit und glücksuchende Sehnsucht verwirrten
+Geschöpfe sei, die überall auf der Erde, einander sehr
+ähnlich, zu finden sind&hellip; In einem weichen Abend voller
+grünlichgelber Laternen, voller Regenschirme und
+Straßenschmutz stand ein kleiner buckliger Mensch ängstlich
+wartend neben dem Hausschild einer Theaterschule.</p>
+
+<p>
+III</p>
+
+<p>
+Manchmal kam ein Wind, ein giftiger heißer Hund. Wie zähes,
+glühendes Öl lag die Sonne auf den Häusern und auf den
+Straßen und auf den Leuten. Kleine geschlechtslose
+Menschlein mit schrägen Beinen hopsten sinnlos um den
+vergitterten Vorgarten des Café Klößchen. Innen prügelten
+sich Kuno Kohn und Gottschalk Schulz. Andere sahen zufällig
+zu. Lisel Liblichlein saß ernsthaft in einer Ecke.</p>
+
+<p>
+Die Veranlassung war gewesen: Herr Kohn hatte Fräulein
+Liblichlein mehrmals von der Theaterschule nach Hause
+begleitet. Als Schulz davon erfuhr, wurde er grundlos
+eifersüchtig. Er fing an, über den Kohn Schlechtes zu reden.
+Lisel Liblichlein, die den Vetter durchschaute, verteidigte
+den Buckligen. Darüber ärgerte sich der Schulz noch mehr. Er
+erklärte überzeugend, er werde sich erschießen. Das
+unterließ er, drohte aber, er werde auch sie erschießen. Da
+verbat sie sich seine Gesellschaft. &ndash; Lisel Liblichlein
+mußte einen Menschen haben, mit dem sie sich über ihre
+wichtig empfundenen Alltäglichkeiten aussprechen konnte. Sie
+wählte nach dem Zank mit Schulz aus irgendeinem ungeklärten
+Instinkt den Kohn. So kam es, daß sie ihn an dem Mittag des
+Prügeltages in das Klößchen bestellt hatte, um vielleicht
+über die Wahl eines Kleides oder über die Auffassung einer
+Rolle oder über ein kleines Geschehnis mit ihm zu beraten.
+Kohn war soeben gekommen, wollte sich gerade über die
+Wünsche des Fräulein informieren, als Gottschalk Schulz
+hineinfiel, mit rotgeschwollenem Gesicht vor ihm war, ihn
+einen gewissenlosen Mädchenverführer nannte. Kohn versuchte
+den Schulz von unten zu ohrfeigen. Dann schlug jeder wütend
+und schweigend auf den anderen. Das Schild des
+Abortpächters, auf dem vorher zu lesen war: »Mein Institut
+ist jetzt hier, Eingang dort« &ndash; lag zerschmettert auf dem
+Boden. Plötzlich stieß die Hand des Schulz wuchtig auf den
+Buckel Kohns. Die Hand hatte ein blutiges Loch, auch der
+Buckel war beschädigt. Schulz rief leichenbleich: »Der
+Buckel ist lebensgefährlich.« Danach ließ er sich von einem
+Oberkellner nach einer Unfallstation begleiten. Lisel
+Liblichlein würdigte er keines Blickes.</p>
+
+<p>
+Kohn achtete nicht sehr auf den geschundenen Buckel. Er
+setzte sich wieder zu Lisel Liblichlein an den Tisch,
+bestellte Tee mit Zitrone. Sie sah, wie immer deutlicher
+Blut durch seinen fadenscheinigen Gehrock sickerte. Sie
+machte ihn auf den blutenden Gehrock aufmerksam, er
+erschrak. Sie sagte, ob sie die Wunde verbinden solle &ndash; er
+sagte bitter, einen Buckel anzufassen, werde ihr nicht
+angenehm sein. Sie sagte mitleidig errötend, ein Buckel sei
+menschlich &ndash; sie sagte, er möge zu ihr kommen. Der Buckel
+müßte gesäubert und gekühlt werden. Dann wolle sie einen
+Verband machen. Er könne den Nachmittag bei ihr
+verbringen&hellip;</p>
+
+<p>
+Kohn ging freudig zögernd auf ihren Vorschlag ein. Sie saßen
+bis in die Nacht in der kleinen Stube Lisel Liblichleins.
+Unterhielten sich über Seele, Buckel, Liebe. &ndash;</p>
+
+<p>
+Schriftsteller Schulz war von diesem Tage an verschollen.
+Zuletzt hatte ihn ein Bekannter an dem Abend vor dem
+Schaufenster eines Schuhwarengeschäftes gesehen. Er soll
+jeden Stiefel einzeln trübsinnig betrachtet haben. »Heiße
+Helden« &ndash; eine Zeitschrift für romantische Decadence &ndash;
+erhielt bald danach einen Eilbrief, in dem Schulz mitteilte,
+daß er im Begriff sei, sich aus seelischen Gründen das Leben
+zu nehmen. Einige hielten diese Mitteilung für nicht mehr
+neue Reklame. Die meisten waren begeistert. Die Zeitungen
+brachten aufregende Notizen. Ein Schulz-Leichen-Suchefonds
+wurde gegründet. Ein Fabrikbesitzer stiftete einen
+gediegenen Sarkophag.</p>
+
+<p>
+Man durchforschte Wälder und Wiesen. Stocherte mit langen
+Stangen in allen Seen. Man fand keine Spur von Schulz.
+Wollte das Suchen schon aufgeben, als man ihn ganz entstellt
+in einem mittelmäßigen Hotel eines entlegenen Vorortes
+entdeckte. Er hatte sich an einem windigen Teich eine
+schwere Influenza zugezogen, die ihn wochenlang an ein Bett
+fesselte. Man traf ihn auf der knarrenden Hoteltreppe, wie
+er, in viele Decken und Tücher gehüllt, noch einmal seine
+Selbstmordabsichten versuchsweise verwirklichen wollte.
+Unschwer brachte man ihn davon ab, führte ihn triumphierend
+in die Stadt zurück. Der Sarkophag wurde versetzt. Aus dem
+Erlös und von dem Rest des Schulz-Leichen-Suchefonds wurde
+ein Bohemefest veranstaltet &ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+<p>
+Gottschalk Schulz selbst thronte als Faust weltschmerzlich
+in einem Winkel. Der begabte Doktor Berthold Bryller
+erschien als: Einer der Literaten, die fett werden. Lutz
+Laus verhielt sich in päpstlichem Ornat. Der Gymnasiast
+Spinoza Spaß &ndash; der Klößchenclown &ndash; hatte ein Siegfriedkostüm
+um den Leib gehängt, sich einen Goethekopf frisiert. Der
+Lyriker Müller lag bald als grüne betrunkene Leiche. Kuno
+Kohn, der sich mit Schulz formell wieder ausgesöhnt hatte,
+kam, wie er war. Mit ihm auch Lisel Liblichlein, sie trug
+ein ländliches Kleid. Die anderen liefen als Chinesen,
+Schimpansen, Götter, Nachtwächter, Leute von Welt
+quietschend und quer durcheinander. Das ganze Klößchen war
+vorhanden.</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein tanzte in dieser bunten, kreischenden
+Nacht nur mit dem buckligen Dichter. Manche sahen dem
+seltsamen Paar zu, aber es ließ sich nicht lachen. Der
+Buckel Kohns stieß hart und rücksichtslos wie eine
+Tischkante gegen die weichen anderen. Es schien, als wäre
+ihm eine Lust, immer wieder den Buckel in einen Tanzenden zu
+stechen. Niemals versäumte er, mit Fistelstimme, unverschämt
+höflich, »pardon« zu sagen, wenn ein verrücktes Weib
+hochschrie oder einer aus Seligkeit »verflucht &hellip;« Knurrte.
+Lisel Liblichlein hielt den Dichter mit der einen Hand unten
+an dem Buckel wie an einem Henkel, mit der anderen Hand
+preßte sie den eckigen Kopf Kohns sanft in ihre Brust. So
+tanzten sie durch viele besessene Stunden.</p>
+
+<p>
+Kohns Buckel wurde immer schmerzhafter für die anderen
+Tänzer. Man wagte Empörung zu äußern. Die Festleitung teilte
+dem Kohn mit, daß er ersucht werde, das Tanzen einzustellen.
+Mit einem derartigen Buckel dürfe man nicht tanzen. Kohn
+widersprach nicht. Lisel Liblichlein sah, daß sein Gesicht
+grau wurde.</p>
+
+<p>
+Sie führte ihn in eine versteckte Nische. Da sagte sie: »Von
+nun an sage ich 'du' zu dir.« Kuno Kohn antwortete nicht,
+aber er empfing ihre mitleidende Seele wie ein Geschenk in
+seine wasserblauen Troubadouraugen. Sie sagte zitternd, daß
+sie ihn mit einem Mal so lieb habe, sei ihr
+unverständlich&hellip; Sie wolle seine arme Hand niemals mehr
+loslassen &hellip; Sie habe nicht gewußt, daß man so maßlos
+glücklich sein könne &hellip; Kuno Kohn lud sie ein, ihn an dem
+nächsten Abend zu besuchen. Sie sagte gern zu.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein waren wohl die ersten, die
+das taumelnde Fest verließen. Sie gingen flüsternd in den
+himmelhellen, von Mondlicht leuchtenden Straßen. Der
+verliebte Dichter warf abenteuerliche Schatten mit riesigen
+Höckern auf das Pflaster.</p>
+
+<p>
+Bei dem Abschied senkte Lisel Liblichlein den Kopf zu Kohn
+nieder. Sie küßte mehrmals seinen Mund. So trennten sich
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein &hellip; Er sagte, er freue sich,
+daß sie ihn an dem nächsten Abend besuchen werde. Sie sagte
+ganz leise: »Ich&hellip; Ach &hellip; Auch &hellip;«</p>
+
+<p>
+Die Häuser standen wohlgeordnet wie Bücher in Regalen auf
+den gepflegten Straßen. Der Mond hatte hellblauen Staub auf
+sie geschüttet. Wenige Fenster waren wach, die funkelten
+friedlich wie einsame Menschenaugen, hatten immer denselben
+goldfarbenen Blick. Kuno Kohn ging nachdenklich heim. Der
+Körper war gefährlich nach vorn geneigt. Die Hände lagen
+fest auf dem Ende des Rückens. Der Kopf war weit
+heruntergefallen. Zu oberst ragte der Buckel, ein
+abenteuerlicher spitzer Stein. Kuno Kohn war in dieser
+Stunde kein Mensch mehr, er hatte seine eigene Form.</p>
+
+<p>
+Er dachte: »Ich will vermeiden, glücklich zu werden. Das
+bedeutete: Die Sehnsucht über alle Erfüllung hinaus, die
+mein köstlichster Inhalt ist, aufgeben. Den heiligen Buckel,
+mit dem ein freundliches Geschick mich geweiht hat, durch
+den ich das Dasein viel, viel tiefer, unseliger, herrlicher
+gespürt habe, als die Menschen es spüren, zu einer lästigen
+Äußerlichkeit degradieren. &ndash; Ich will aus Lisel Liblichlein
+ihr höheres Wesen herausbilden. Ich will sie heillos
+unglücklich machen &hellip;«</p>
+
+<p>
+Während der Dichter Kohn dies dachte, erstach sich der
+Dichter Schulz endgültig mit einem Salatmesser. Er hatte
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein bei ihrer vertrauten
+Unterhaltung in der Nische beobachtet. Hatte gesehen, wie
+sie zusammen weggingen. Er bemühte sich, seinen Jammer zu
+besaufen und zu befressen, es half nicht. Nachdem er einige
+Stunden gegessen und getrunken hatte, war er geisteskrank.
+Er sang: »Der Tod ist eine ernsthafte Angelegenheit&hellip; Der
+Tod läßt nicht mit sich spaßen &hellip; Der Tod ist ein
+dringendes Bedürfnis&hellip;« Dann pikte er sich zaghaft und
+zögernd das erste beste Messer in die linke Brust. Blut und
+blutige Salatreste spritzten umher. Diesmal war der
+Selbstmordversuch von Erfolg gekrönt.</p>
+
+<p>
+IV</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein erschien an dem nächsten Abend früher als
+verabredet war. Kuno Kohn öffnete die Tür, Blumen in der
+Hand haltend. Er freute sich sichtbar, er sagte, er habe
+kaum gehofft, daß sie kommen werde. Sie legte die Arme um
+seinen knochigen Körper, preßte ihn an ihren Leib mit
+saugendem Druck, sagte: »Du buckelliebes Dummchen &hellip; Ich
+hab dich doch gern &ndash;«</p>
+
+<p>
+einige einfache Abendgerichte wurden gegessen. Sie
+streichelte ihn, wenn ihr etwas gut schmeckte. Sie sagte,
+sie wolle bis nach Mitternacht bei ihm bleiben. Dann könnte
+sie mit ihm den Beginn ihres achtzehnten Geburtstages feiern
+&hellip;</p>
+
+<p>
+Aus einer Kirchenuhr kam der neue Tag. Die ersten lauten
+Atemzüge drangen wie gestöhnte Gebete in das verhangene
+Kohnsche Zimmer. Da war Lisel Liblichleins junger
+Seelenkörper ein Tempel geworden, sie hatte sich dem
+buckligen Priester mit rührender unter Schmerzen geopfert.
+Hatte gesagt: »Bist du jetzt froh &ndash;« lag aufgelöst in Traum
+und Ergriffenheit. Die dünne Haut der Lider hüllte sie ein.</p>
+
+<p>
+Plötzlich rannte ein Entsetzen über den Körper. Hatte sie
+den Schrecken in dem Gesicht wie Krallen. Waren aufgerissene
+schreiende Augen über dem Buckligen. Sagte Lisel Liblichlein
+tonlos: »Dies &ndash; war &ndash; das Glück
+&ndash;&ndash;&ndash;« Kuno Kohn weinte.</p>
+
+<p>
+Sie sagte: »Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno &hellip; Was fange
+ich mit dem übrigen Leben an?« Kuno Kohn seufzte. Er sah
+ernst und gütig in ihre elenden Augen. Er sagte: »Armes
+Lisel! Das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit, das dich
+überfallen hat, habe ich häufig. Der einzige Trost ist:
+Traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet,
+soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben.
+Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter
+brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu
+finden.« &ndash; Er wischte Schweiß von Buckel und Stirn.</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein sagte: »Warum du eine lange Rede hältst,
+weiß ich nicht. Was du gesagt hast, verstehe ich nicht. Daß
+du mir das Glück genommen hast, war lieblos, Kohn.« &ndash; Die
+Worte fielen wie Papier.</p>
+
+<p>
+Sie sagte, sie wolle gehen. Er möge sich ankleiden. Der
+nackte Buckel sei ihr peinlich&hellip;</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein sprachen kein Wort mehr, bis
+sie sich vor der Tür des Hauses, in dem das Pensionat war,
+für immer trennten. Er sah in ihr Gesicht, hielt ihre Hand,
+sagte: »Lebe wohl &ndash;« sie sagte leise: »Lebe wohl &ndash;«</p>
+
+<p>
+Kohn duckte sich in seinen Buckel. Lief niedergebrochen
+davon. Tränen verschmierten das Gesicht. Er fühlte die
+nachschauenden betrübten Blicke auf seinem Rücken. Da rannte
+er um die nächste Häuserecke. Er blieb stehen, trocknete die
+Augen mit einem Tuch, eilte weinend weiter.</p>
+
+<p>
+Wie Krankheit kroch schleimiger Nebel in der erblindenden
+Stadt. Laternen waren düstere Sumpfblumen, die auf
+schwärzlich glimmenden Stielen flackerten. Dinge und Wesen
+hatten nur fröstelnden Schatten und verwischte Bewegung. Wie
+ein Ungetüm torkelte ein Nachtomnibus an Kohn vorüber. Der
+Dichter rief: »Jetzt ist man wieder ganz einsam.« &ndash; Da
+begegnete ihm eine große Bucklige mit langen Spinnenbeinen
+in gespenstig durchscheinendem Rock. Der Oberkörper glich
+einer Kugel, die auf einem hohen Tischchen liegt. Sie sah
+ihn mitleidig lockend an, mit verliebtem Lächeln, das durch
+den Nebel zu einer tollen Grimasse gezerrt wurde. Kohn war
+sogleich in dem Grau verschwunden. Sie ächzte, dann trug sie
+sich weiter.</p>
+
+<p>
+Lahmer Tag hinkte heran. Zertrümmerte mit eiserner Krücke
+die Reste der Nacht. Das halb ausgelöschte Café Klößchen lag
+in dem lautlosen Morgen, eine glänzende Scherbe. In einem
+Hintergrund saß der letzte Gast. Kuno Kohn hatte den Kopf in
+den bebenden Buckel gesenkt. Die dürren Finger einer Hand
+bedeckten Stirn und Gesicht. Der ganze Körper schrie
+lautlos.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte »Cafe Klößchen«</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte »Cafe Klößchen«</h4>
+
+<p>
+I</p>
+
+<p>
+Im Cafe Klößchen</p>
+
+<p>
+in der Nähe Kohns sprachen im Kreis wenig bekannte Kritiker,
+Maler, Dichter und ein paar. Zumeist Mitarbeiter der neuen
+Zeitschrift: »Das andere A« und der unregelmäßig von dem
+kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der
+Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«.
+Bei ihnen saß ein schönes fressendes Fräulein.</p>
+
+<p>
+Man stritt sich gerade um den literarischen Unwert des Herrn
+Kohn. Der Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, erklärte,
+ihm sei unbegreiflich, daß Herr Doktor Bryller den Kohn
+lobe. Kohn schildere alles anders. Kohn sei ein Lügner. Kohn
+sei grotesk. - Der begabte Doktor Berthold Bryller sagte
+darauf: »Grotesk sein, sei kein Nachteil. Groteske sei
+immerhin eine Brücke zu einem Weg.« Und ein
+Witzblattredakteur, der eigentlich nicht hierher gehörte,
+schrie schüchtern: »Auch ich schätze alles, was grotesk und
+originell ist und über den stumpfsinnigen deutschen
+Tintensumpf hinausstrebt.« - Aber Lutz Laus rief: »Ich
+schätze gar nichts. Ich teile diese Knaben ein in Burschen,
+welche schreiben, weil ihnen nichts einfällt, und in
+Gesindel, welches schmiert, weil ihm so zumute ist.« -
+Spinoza Spaß, ein Gymnasiast, der dämlich an einem Stuhle
+hing, freute sich langsam. Er blickte boshaft zu dem
+einsamen Kohn. Und sagte, weiches Gemüt und heimatlichen
+Akzent durch Berlinern etwas verbergend: »Nehmen Se jrotesk,
+det hebt Ihnen.« - Alle lachten.</p>
+
+<p>
+Kohn sah das Fräulein eine Weile innig an, zu den anderen
+schmiß er nur verächtliche Blicke. Er stand bald auf und
+ging weg.</p>
+
+
+<p>
+II</p>
+
+<p>
+Der Dackel-Laus</p>
+
+<p>
+an einem weichen Abend voller grünlichgelber Laternen,
+voller Regenschirme und Straßenschmutz erregte der
+Dackel-Laus gewaltiges Aufsehen in dem Café Klößchen. Er
+ließ Zettel verteilen, auf denen für eine neue, von ihm
+erfundene gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage
+Propaganda gemacht wurde. Ferner war für den nächsten Abend
+eine konstituierende Versammlung in einen nahen Kintopp
+einberufen.</p>
+
+<p>
+Das ganze Café Klößchen erschien. Sogar Kuno Kohn, der
+eigentlich der Klößchenclique nicht angehörte, mit den
+meisten Literaten dieser Gruppe verfeindet war, kam in den
+Kintopp. Gottschalk Schulz rief leise: »Das ist ein
+ekelhafter Kerl. Das ist ein sogenannter grotesker Kohn.«
+Lisel Liblichlein sagte: »Wer -« Schulz sagte: » Der kleine
+Bucklige, der dort kommt.« Sie sah den Buckligen. Und sagte:
+»Ach -« R. R. Müller, der neben ihr saß, flüsterte ihr
+vertraulich zu: »Dieser Kohn ist gefährlich.« Sie sagte:
+»Wieso -«</p>
+
+<p>
+da sang eine Dame. Als die Dame nicht mehr sang, faßte
+Gottschalk Schulz die Hand des Fräulein Liblichlein. Auch
+den anderen war infolge des Gesanges feierlich zumute.
+Einige hatten Tränen in den Augen.</p>
+
+<p>
+Nun trat Lutz Laus selbst auf einen Stuhl. Er war ganz
+schwarz gekleidet, aber das Gesicht war purpurrot, und die
+Hände steckten in giftgrünen Lappen. Die Pupillen glänzten
+wie gelbes Glas. Es war unsagbar still. Und er verkündete
+seine Religion. Er sagte, diese Religion sei die Religion
+der gehobenen Pessimisten. Diese Religion habe keinen Gott,
+aber einen Papst. Der Papst sei er. Zugleich machte er die
+Mitteilung, daß er in Anlehnung an die katholische Kirche
+das Dogma von der Lausischen Unfehlbarkeit festzustellen
+bitte. Und er verriet, daß er in kurzer Zeit in einem
+Bürgerlichen Gebetbuch (Laus: BGB.) In 2385 Aphorismen die
+grundlegenden Sätze seiner Religion zusammenstellen werde. -</p>
+
+<p>
+Nach der Versammlung ging man haufenweise in das Café
+Klößchen.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Die Jungfrau</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Die Jungfrau</h4>
+
+<p>
+Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers
+Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga
+Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem
+Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch &ndash; der
+damals Student war &ndash; Tee trank und Zeitungen las und
+rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten
+heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner
+einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich &ndash; häufig
+abwechselnd &ndash; mit sehr verschiedenen Männern sehr
+verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst
+zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine
+Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte
+den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende.
+Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen
+Kutscher, der sie abgöttisch liebte.</p>
+
+<p>
+Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden,
+als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der
+achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte
+die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das
+in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde &ndash; dem
+Bruder des Verrückten &ndash; der Exzellenz Moriz von Mondmilch,
+einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben.
+Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war:
+»Maria.«</p>
+
+<p>
+Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine
+sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen
+widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und
+dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna
+von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen
+Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre
+darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind
+einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen
+Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz
+Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe.</p>
+
+<p>
+Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den
+fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war,
+monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria
+Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe
+voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher
+Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen
+zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche
+Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria
+Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein
+Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial
+für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land
+erregte.</p>
+
+<p>
+Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines
+Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den Besten.
+Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie,
+allerhand Schweinereien &ndash; die vorkamen &ndash; angestiftet zu
+haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr
+abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man
+ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen
+Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend
+verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu
+haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste
+Zeugin.</p>
+
+<p>
+Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den
+berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem
+möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief
+sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie
+sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem
+schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke
+unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne
+gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt
+photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die
+Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden
+Elektrotechniker &ndash; namens Hans Hampelmann &ndash; in einem
+verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach
+Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu
+studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu
+erklären.</p>
+
+<p>
+Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz &ndash; ein intelligent
+und verludert aussehender Mensch, der nach billiger
+Schokolade stank &ndash; lief planlos sehnsüchtig die abendlich
+funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in
+welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr,
+als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und
+Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß &ndash; ziemlich &ndash; sprach
+er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe
+niederer Sorte.</p>
+
+<p>
+Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die
+Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige
+Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne; die
+schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das
+Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an
+entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen &hellip; Die
+Unzulänglichkeit der Frauen&hellip; Die Unheilbarkeit der
+Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu
+bemerken glaubte &hellip; Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte,
+leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen.
+Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr
+Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war
+entzückt, als sie &ndash; kokett betonend, daß sie leider nur
+wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne &ndash;
+wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes,
+herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen,
+halbseidenen Strumpf befestigt war.</p>
+
+<p>
+Die Studentin erwiderte merklich die Sympathie des
+Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr
+Zutrauen ein. Seine &ndash; auf sie eingestellten &ndash; von Schminke
+und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien
+ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten
+treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus
+Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes
+Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner
+und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen
+Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen
+wie sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht
+kennengelernt.« &ndash; Er faßte sie beglückt an. Während draußen
+ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte
+Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen &hellip; Und so
+weiter.</p>
+
+<p>
+Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die
+Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die
+gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch
+mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in
+der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in
+einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer
+zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht
+einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf
+entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig
+wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der
+Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös
+mit den Händen und den Füßen.</p>
+
+<p>
+Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er
+schrie leise &ndash; das war, als würde etwas zerschlagen: »Ich
+will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« &ndash; &ndash; einige Tränen
+kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war.
+Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch
+wie er. Aber unbewußt.</p>
+
+<p>
+Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit
+überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa.
+Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann,
+kommen Sie.«&ndash; Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem
+unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon
+bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte,
+niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die
+Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen
+könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche
+Reaktion immer negativ war.« &ndash; Da sagte sie heroisch:
+»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.«</p>
+
+<p>
+Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne
+war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das
+Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit
+ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben.</p>
+
+<p>
+Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr
+Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die
+Jungfrau. öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel
+Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte
+ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer
+als meine Haut in mich &hellip; Ich schlich in den Tagen. Rannte
+in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und
+Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war
+ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb
+ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht
+in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob
+die Sonne schien &hellip; Niemand durfte mich seine Frau nennen.
+Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist
+in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig&hellip; Einer ist
+blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben.
+Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen.
+Nichts ist vorgefallen &hellip; Du, blauäugiges Leidensgesicht
+unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe.
+Bist du mein Mann, in den ich selig sinke &ndash;&ndash;«</p>
+
+<p>
+und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich
+bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling.
+In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin
+Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus
+Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich &ndash;
+halbtot &ndash; dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht,
+um dich noch zu finden &ndash;«</p>
+
+<p>
+da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen:
+»Schwertschwänzchen, liebst du mich &ndash;« und schon ertrunken:
+»Er liebt mich nicht.« &ndash;</p>
+
+<p>
+Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte
+ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den
+Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus.</p>
+
+<p>
+Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor
+Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria
+Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich
+die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte
+wie ein Hund am Meer.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Gespräch über Beine</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Gespräch über Beine</h4>
+
+<p>
+I</p>
+
+<p>
+Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber: »Ihnen kann
+man die Beine nicht abtreten.«<br />
+Ich sagte: »Wieso?«<br />
+Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«<br />
+Ich sagte: »Merkt man das?«<br />
+Der Herr sagte: »Natürlich.«<br />
+Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in
+Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken
+mitgenommen.<br />
+Der Herr sagte: »Was ist das?«<br />
+Ich sagte: »Meine Beine.«<br />
+Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen
+dennoch nicht weiter.«<br />
+Ich sagte: »Leider.«<br />
+Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne
+Beine eigentlich zu tun.«<br />
+Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht
+zerbrochen.«<br />
+Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne
+Schwierigkeit Selbstmord begehen.«<br />
+Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«<br />
+Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen,
+müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer
+wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften
+wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch
+einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der
+Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto
+nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den
+Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer
+befördern soll.«<br />
+Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«<br />
+Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da
+sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen
+Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick?
+Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das
+ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«<br />
+Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und
+Ästhetik an der Universität. Darf ich mich
+vorstellen?«<br />
+Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich
+selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie
+sind.«<br />
+Ich betrachtete melancholisch meine Stummel.</p>
+
+<p>
+II</p>
+
+<p>
+Alsbald sagte die Dame gegenüber:<br />
+»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«<br />
+Ich sagte: »Ja.«<br />
+Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat,
+nicht anfassen.«<br />
+Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«<br />
+Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu
+überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie
+anzusehen.«<br />
+Ich sagte: »Nanu.«<br />
+Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher
+sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter
+Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen
+fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«<br />
+Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«<br />
+Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei
+dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl
+tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen
+hätten.«<br />
+Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir
+in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen
+Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als
+ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische
+Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer
+Disziplin führte.«<br />
+Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«<br />
+Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur
+der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist,
+muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so
+bucklig und entstellt sein.«<br />
+Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an
+den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand
+Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem
+saftigen Leibe ragten.<br />
+Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht
+haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte.
+Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes
+als einer ohne.«<br />
+Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Skizzen</title>
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+
+<body>
+<h3 class="section center">Skizzen</h3>
+
+</body>
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+ <title>Mieze Maier</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Mieze Maier</h4>
+
+<p>
+Ich besuche noch das Gymnasium, doch interessiere ich mich
+mehr für Theater und Literatur. Ich lese Wedekind, Rilke und
+andere. Auch Goethe. Schiller und George mag ich nicht.</p>
+
+<p>
+Meine Freundin heißt Mieze Maier. Sie bewohnt mit ihrer
+Gesellschafterin eine elegante Vierzimmerwohnung, denn ihr
+Vater, Markus Maier, hat ihr viel Geld hinterlassen. Ihre
+Mutter ist vor zehn Jahren den Folgen einer
+Unterleibsoperation erlegen. Ihre Mutter soll schön gewesen
+sein.</p>
+
+<p>
+Mieze Maier ist erst kürzlich sechzehn Jahre alt geworden.
+Ihr Geburtstag wurde sehr gefeiert. Viele hübsche und
+lasterhafte Mädchen und eine Anzahl junger Männer waren
+geladen. Man war sehr frivol. Man flüsterte einander ins
+Ohr, daß Mieze jetzt sechzehn Jahre alt sei. Dabei lächelte
+man &hellip;</p>
+
+<p>
+Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr
+kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht
+es, viele Männer krank zu machen, daß sie Trauer in den
+Augen tragen, wenn sie wach sind, und ein Lächeln um die
+Lippen haben, wenn sie schlafen. Und die Hände sind dicht an
+dem Körper .. .</p>
+
+<p>
+Stets hat sie ihre Favoriten gehabt. Die sind wie Puppen,
+mit denen sie spielt, bis sie ihrer eines Tages überdrüssig
+wird und sie achtlos beiseitewirft. Ich kenne sieben. Sechs
+Wochen hat keiner in ihrer Gunst überdauert. Ich bin der
+achte.</p>
+
+<p>
+Ich weiß &ndash; auch meine Tage sind gezählt. Auch ich werde
+grausam abgetan werden von diesem sechzehnjährigen Ding &ndash;
+halb Kind noch. Wenn ich daran denke, schäme ich mich schon
+jetzt und gräme mich. Und doch &ndash;</p>
+
+<p>
+wir haben uns nicht gesagt, daß wir uns liebhaben, sind aber
+sehr zärtlich zueinander. Dies kam so:</p>
+
+<p>
+Wir trafen uns einmal. Das war Zufall. Der Tag war grau vor
+Müdigkeit. Dämmerung lag über den Dingen. Von wenigen
+Häusern fiel gelbes und rotes Licht.</p>
+
+<p>
+Wir gingen zusammen. Ihre Augen hielten Glanz. Manchmal
+deckte sie die halben Lider darüber. Und sie fing die Blicke
+von Männern in ihre Augen. Das muß eine feine Wollust
+sein.</p>
+
+<p>
+Wir sprachen nicht, nur einmal sagte sie, daß ich rote
+Lippen habe. Und einmal sagte ich, daß sie oberflächlich
+sei, denn ich wollte sie ärgern.</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage trafen wir uns wieder. Das war kein Zufall.
+Wir gingen über Wiesen. Sie legte die Hand auf meine
+Schulter und war gut zu mir. Da dachte ich an den Fußtritt,
+den ich einmal von ihr erhalten werde.</p>
+
+<p>
+&hellip; Ich hatte ihr gestern wehe getan, weil ich sie
+oberflächlich nannte. Denn in ihrer Stimme klang etwas wie
+Weinen, als sie sagte:</p>
+
+
+<p>
+»Ich bin wirklich nicht so oberflächlich, wie Sie glauben,
+Olaf. Ich habe zweimal unglücklich geliebt und einmal
+glücklich entbunden.«</p>
+
+<p>
+Mir schien, als ob die Hand auf meiner Schulter schwerer
+würde&hellip;</p>
+
+<p>
+Wir schritten langsam. Wir sahen keine Menschen. Wind kam
+über die Wiesen. Am Himmel waren überall Wolken, die drohten
+Regen.</p>
+
+<p>
+Sie sah mich an. Ihr Blick war nackt und sagte von
+Leidenschaft.</p>
+
+<p>
+Das war zu niedlich, wie ich sie da plötzlich packte und mit
+mir ins Gras warf und schon halb im Rausch ihr zuflüsterte:
+Du, meine &ndash; und wie sie ermattet lag und schluchzte: Olaf &ndash;
+&ndash; &ndash;</p>
+
+<p>
+ seither schreibe ich in der Schule schlechte Arbeiten. Ich
+werde wohl nicht versetzt werden.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Kuno Kohn</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Kuno Kohn</h4>
+
+<p>
+Seit einem halben Jahr wohne ich in dem Haus. Von den
+Bewohnern hat noch niemand etwas bemerkt. Ich bin
+vorsichtig.</p>
+
+<p>
+Das weiße Kostüm bringt mir Glück. Ich verdiene genug. Und
+habe angefangen zu sparen; denn ich fühle, daß die Kräfte
+nachlassen. Häufig bin ich matt, manchmal habe ich
+Schmerzen. Auch werde ich dick und alt. Ich schminke mich
+nicht gern &ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+<p>
+ich stehe nicht mehr unter Kontrolle. Kuno Kohn hat mich
+frei gemacht. Ich bin ihm dankbar.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn ist häßlich, er hat einen Buckel. Das Haar ist
+messingfarben, das Gesicht ist bartlos und von Furchen
+rissig. Die Augen sehen alt aus, um sie sind Schatten. Am
+Hals beginnt eine Narbe wie eine Regenrinne. Das eine Bein
+ist angeschwollen. Kuno Kohn hat einmal gesagt, daß er
+Knochenfraß habe.</p>
+
+<p>
+Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen:</p>
+
+<p>
+Es regnete. Die Straßen waren naß und schmutzig. Ich stand
+an einer Laterne und blickte auf die angespritzten Kleider.
+Wenn Wind kam, fröstelte ich. Die Füße schmerzten von den
+Schuhen.</p>
+
+<p>
+Selten ging wer. Meist auf der anderen Seite. Im Schutz der
+Bäume. Mit aufgeschlagenem Mantelkragen. Den Hut schief über
+die Stirn. Niemand beachtete mich, ich stand traurig.</p>
+
+<p>
+Der Kies knirschte hinter mir. Hart und plötzlich, daß ich
+aufschreckte. Ein Polizist kam, die Hände am Rücken. Er ging
+langsam. Er sah mich argwöhnisch an, stolz auf sein Recht.
+Mit nacktem Blick, er fühlte sich Herr. Er schritt weiter.
+Ich lachte höhnend, er schaute sich nicht um. Der Polizist
+verachtete mich.</p>
+
+<p>
+Ich gähnte; es war spät geworden. &ndash; Da kam einer, der war
+klein und verwachsen. Er blieb stehen, als er mich sah. Er
+hatte die unglücklichen Augen, um die Lippen war verlegenes
+Lächeln. Er versteckte einen Teil des Gesichts hinter dürren
+Fingern. Und rieb am rechten Lid, wie wer, der sich schämt.
+Und hüstelte &hellip; Ich trat dicht zu ihm, daß er mich fühlte.
+Er sagte: »Na &ndash;« ich sagte: »Komm, Kleiner.« Er sagte:
+»Eigentlich bin ich homosexuell.«</p>
+
+<p>
+Und nahm meine Hand. Und küßte mit kalten Lippen.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Mabel Meier</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Mabel Meier</h4>
+
+<p>
+Es war spät. Häufig hörte ich die Geräusche von Fahrzeugen.
+In Abständen sah ich Leute. An einer Ecke standen zwei,
+die.. . Schämten sich, als ich nahe war.</p>
+
+<p>
+Mädchen kamen, die sich verspätet hatten. Wenige, die Geld
+verdienen wollten. Ich sah die lange Dirne, die sich jeden
+Abend hier herumtreibt. Ich erkannte sie an dem Unterrock.</p>
+
+<p>
+Ein Kriminalbeamter beobachtete mich. Vor mir lief eine
+Frau, die blieb oft stehen und heulte.</p>
+
+<p>
+Ich dachte nicht nach. Ich blickte zu den Sternen und fand
+keinen Wunsch. Ich betrachtete mich gleichgültig wie einen
+fremden Gegenstand. Ich schüttelte den Kopf, daß der alte
+Mann so spät allein geht &hellip; Und zu den Sternen murmelt &hellip;
+Und so sonderbar ist. ..</p>
+
+<p>
+Ich begegnete einer Dame, die sagte: »Au &ndash;« ich sagte: »Darf
+ich Sie begleiten?« Die Dame sagte: »Bitte.« &ndash; Es war
+ziemlich dunkel.</p>
+
+<p>
+Wir gingen miteinander; die Dame erzählte, sie heiße Meier,
+der Rufname sei aber Mabel. Sie wohne bei Verwandten, die
+hätten eine Portierstelle. Im übrigen sei sie Choristin.</p>
+
+<p>
+Die Dame war nicht schön und nicht jung, aber sie sah
+zugänglich aus. Ich hatte keinen Grund, schüchtern zu sein
+-</p>
+
+<p>
+vor dem Haus, in dem die Dame wohnte, blieben wir stehn.</p>
+
+<p>
+Ich machte den Vorschlag, noch ein Hotel aufzusuchen. Die
+Dame war nicht abgeneigt, sie sagte: »Nee &ndash;« ich
+sagte:»Wieso &ndash;« die Dame sagte, sie habe Trauer. Ich fragte,
+wer gestorben sei. Sie sagte: »Papa &ndash;« ich sagte: »Sie
+wollen also nicht &ndash;« über das Gesicht der Dame kam ein
+Lächeln. Sie schaute zu einer Laterne &ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Siegmund Simon</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Siegmund Simon</h4>
+
+<p>
+Neun Ärzte behaupten, daß Samuel Simon an Wahnvorstellungen
+leide. Ich füge mich.</p>
+
+<p>
+Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist
+freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will.
+Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die
+Stunden sterben. Wenn es kalt ist, sitze ich am Fenster und
+sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten zu, wenn sie
+rufen oder arbeiten oder traurig sind &hellip; Ich bin froh, daß
+ich fern bin. Ich entbehre nicht das Leben. Ich bin
+zufrieden, wenn man mir nichts tut und nichts von mir will.
+Ich beneide nicht die Menschen.</p>
+
+<p>
+Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein
+Sohn Siegmund kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen,
+als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten
+Geburtstag &ndash;</p>
+
+<p>
+ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf
+einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun
+schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold
+Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein
+neunzehnjähriger Sohn Siegmund. Wenige Verwandte folgten,
+die waren stillvergnügt und unterhielten sich von der
+Raupenplage.</p>
+
+<p>
+Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er
+krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste
+und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der
+Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete
+wurden erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold Lehmann an,
+auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau eine Gedächtnisrede zu
+halten. Er sagte:</p>
+
+<p>
+»Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges
+Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd
+stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner
+in Wehmut.«</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegmund biß auf die Lippen. Der Pastor sagte:
+»Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, daß er kurze
+Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder
+aufgenommen in den Mutterschoß. Ein edler Mensch ist
+heimgegangen &ndash;«</p>
+
+<p>
+mein Sohn Siegmund bekam einen Lachanfall. Das Gesicht wurde
+rot und ernst &hellip; Er lachte, bis er röchelte.</p>
+
+<p>
+Meine Frau schrie.</p>
+
+<p>
+Einem Sargträger entfiel die Schnapsflasche und zerbrach auf
+dem Sarg. Der Sargträger blickte wehmütig hinunter.</p>
+
+<p>
+Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen
+Sohn Siegmund. Einige Frauen weinten in echte
+Spitzentücher.</p>
+
+<p>
+Ich war ganz still.</p>
+
+<p>
+Der Pastor sagte:</p>
+
+<p>
+»Wenn einer nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, soll er
+nicht kommen, wenn einer beerdigt wird &ndash; Amen.«</p>
+
+<p>
+Er warf etwas Sand auf die zerbrochene Schnapsflasche. Und
+entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold
+Lehmann.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegmund säuberte sich die Fingernägel.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Der Freund</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Der Freund</h4>
+
+<p>
+Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind
+ohne Farben und ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie
+Kulissen vor der grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem
+Lichtspiel: Wenn der Abend wird, nicht anders, als sie in
+der Frühe gingen. Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine
+Kammer sieht aus, wie wenn eben einer darin gestorben
+wäre.</p>
+
+<p>
+Sooft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine
+sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen
+Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich
+verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren
+haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin
+und nach innen starre.</p>
+
+<p>
+Ich werde sehr wach davon, und ich kann mich nicht mehr
+hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche
+Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p>
+
+<p>
+Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich
+ein, als kennten sie mich nicht: Die Straße und die Menschen
+und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo
+ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p>
+
+<p>
+Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben
+und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein
+Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde.
+Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist,
+und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen allein
+unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie
+lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe
+Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis
+Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie
+betäuben mich.</p>
+
+<p>
+Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes finde oder den
+Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu sagen ist,
+oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich lächle, wenn
+die Augen meines Freundes plötzlich leben werden und in den
+seidigen Schatten sind, daß sie wie aus Schleiern glänzen
+und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat es mir gesagt,
+und ihr werdet mich einen Narren nennen &hellip; Aber ich weiß,
+daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen ist wie der
+eines andern in den Lungen oder in dem Rückenmark &hellip;</p>
+
+<p>
+Seine Augen waren elend und vergangen und heillos
+schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er
+schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen
+Abenteuern, und verbarg sie viel hinter den vergilbten
+Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat,
+wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht
+selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein
+Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die
+Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War
+verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen &hellip; In dem
+Dunkel.</p>
+
+<p>
+Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre Augen kam.
+Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm. Frauen
+kicherten, sie schauten wie harmlos und klatschten einander
+auf die Schenkel oder auf die nackten Schultern und küßten
+ihre verwüsteten Männer. In der Nacht lagen sie wach und
+sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen wichen ihm
+aus.</p>
+
+</body>
+</html>
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+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Konrad Krause</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Konrad Krause</h4>
+
+<p>
+Nicht einmal in der Nacht habe ich hier Ruhe. Häufig reißt
+mich eine Hand von dem Schlaf oder ein Wort. Weil alles
+finster ist, weiß ich oft am Morgen noch nicht, wer bei mir
+war.</p>
+
+<p>
+Ich muß früh aufstehen, um die Kleider zu säubern und die
+Stiefel zu reinigen. Die Glieder sind schwer, und die Augen
+haben noch die ganze Müdigkeit. Doch die jungen Herren sind
+hart, wenn ich etwas versäume, und grausam. Nachts aber sind
+sie freundlich und streicheln mich wie eine vornehme
+Dame.</p>
+
+<p>
+Nur der alte Herr Konrad Krause ist auch am Tage gut. Wenn
+er Wünsche hat, spricht er, ohne mich zu beschämen; und in
+dem Klang der Stimme ist, was mich froh macht. Er duldet
+nicht, daß in seiner Gegenwart häßlich von mir geredet wird.
+Ich habe ihn gern.</p>
+
+<p>
+Neulich lachte ich über ihn. Ich wurde durch Geräusche
+geweckt, die kamen von dem Gang vor meiner Kammer. Da war
+ein Gespräch. Ich fand zwei Stimmen: Eine verlor ich viel,
+da sie flüsterte; wenn ich sie fing, war sie jung und roh.
+Eine griff ich, ohne zu suchen; deutlich wie einen Körper.
+Ich fühlte, daß sie zu fett war und Runzeln hatte.</p>
+
+<p>
+Ich hörte von der rohen Stimme: »Willst du auch zu ihr,
+Vater &ndash;«</p>
+
+<p>
+ich hörte von der fetten Stimme: »Geh du erst, mein Sohn &ndash;«</p>
+
+<p>
+als Herr Heinz in die Kammer trat, erschrak er laut, weil
+ich so lachte. Und dann mußte er niesen. ..</p>
+
+<p>
+Aber dies werde ich bald vergessen. Ich weiß sogar nicht
+mehr, wann der alte Herr Konrad Krause sagte, er habe mich
+lieb. Das war noch netter.</p>
+
+<p>
+Ich erinnere mich nur, daß der Schreibtisch, vor dem er saß,
+schon dunkel war, als ich den Tee brachte. Er fragte, wer zu
+Hause sei; ich sagte: »Niemand« &ndash; und wollte den Tee
+eingießen. Er zeigte aber auf die Oberschenkel und sagte:
+»Setzen Sie sich« &ndash; ich sagte: »Ich bin so frei« &ndash; und
+setzte mich. Er sagte: »Stellen Sie doch die Teekanne auf
+den Schreibtisch.« Ich tat das. Und dann sahen wir uns innig
+an, ich war aber sehr schüchtern. Plötzlich faßte er meine
+Hand und drückte sie an seinen Bauch. Sagte: »Geliebte.«</p>
+
+<p>
+Wir zitterten heftig &ndash;</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Die Familie</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Die Familie</h4>
+
+<p>
+Die Familie kommt in jedem Monat einmal zusammen. Die
+Frauen mit den Kindern treffen sich schon nachmittags.</p>
+
+<p>
+Der Kaffee ist ausgetrunken. Die Kinder sind fortgeschickt.
+Sollen spielen. Müssen nicht alles hören.</p>
+
+<p>
+Die Frauen aber flüstern. Sie haben mitleidige Gesichter.
+Sie sprechen von einem, der sehr krank ist.</p>
+
+<p>
+Wenn es dämmrig wird, erzählen sie über Geistergeschichten
+und wunderbare Heilungen. Sie fürchten sich. Rufen die
+Kinder. Drücken die Kinder an die Brust.</p>
+
+<p>
+Dann wird Obst gegessen.</p>
+
+<p>
+Kommen die Männer. Gespräche über Haartrachten, über
+Geschäfte. Und so weiter. Die Unterhaltung geht ruckweise.
+Bleibt immer plötzlich stehen wie eine defekte Uhr. Furcht,
+sie werde ganz aufhören. Ein junges Mädchen wird rot &ndash;</p>
+
+<p>
+aber einmal schweigt alles. Man glaubt zu ersticken. Fühlt
+sich unsicher wie in einer Schaukel, hilflos wie in einer
+Rutschbahn.. . Kommt sich lächerlich vor. Man hört, wie der
+Wind um die Dächer fegt. Regen schlägt an die grauen
+Fenster.</p>
+
+<p>
+Immer noch Schweigen.</p>
+
+<p>
+Da &ndash;</p>
+
+<p>
+ob es so schlimm sei &hellip; Mit ihm &ndash; wie das enden solle &hellip;
+Man sieht aneinander vorbei.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Leopold Lehmann</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Leopold Lehmann</h4>
+
+<p>
+Ich bin Beamter einer Bank. Da ich keine Protektion habe,
+auch nicht ungewöhnlich tüchtig bin, komme ich nicht
+vorwärts. Ich bearbeite seit mehr als dreißig Jahren in
+derselben Abteilung dieselben Buchstaben. Deshalb hält man
+mich für gewissenhaft.</p>
+
+<p>
+Seit einem halben Jahr habe ich einen neuen Assistenten. Der
+heißt Leopold Lehmann. Er weiß alles besser als ich. Er ist
+der Neffe des stellvertretenden Direktors. Er nennt sich
+Volontär. Er hört sich gern reden. Am liebsten spricht er
+von sich. Daher kenne ich seinen Lebenslauf.</p>
+
+<p>
+Leopold Lehmann ist, wie er hervorhebt, eine ungeschickt
+ausgeführte Zangengeburt. Der Kopf ist nudelförmig
+deformiert. Die Nase auch. Er hat die üblichen Krankheiten
+durchgemacht. Er erfreut sich einer komplizierten Lues. Sie
+hat in den Körper Lehmanns faustgroße Löcher gefressen.</p>
+
+<p>
+Leopold Lehmann will die Tätigkeit in der Bank aufgeben,
+Theologie studieren. Daß er schon gekündigt hat, glaube ich.</p>
+
+<p>
+Lehmann verkehrt ausschließlich mit Theologen und mit mir.
+Und mit dem stellvertretenden Direktor.</p>
+
+<p>
+Der hat Rückenmarkschwindsucht.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Sonstige Prosa</title>
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+
+<body>
+<h3 class="section center">Sonstige Prosa</h3>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Randbemerkung</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Randbemerkung</h4>
+
+<p>
+Lacht nur. Euer Lachen ist uns Antrieb &hellip; Schreit.
+Euer Schreien ist uns Heiterkeit &hellip; Heult &hellip;
+Heult &hellip;</p>
+
+<p>
+überseht uns. Wir sind doch da, ihr Erschütterten &ndash;
+dreimal da &hellip; Und stark. Und jubelnd.</p>
+
+<p>
+Wir wissen unsern Sieg, deshalb singen wir euern
+Untergang.</p>
+
+<p>
+Wir kommen über euch, Lieblinge: Morgen schon. Heute
+schon.</p>
+
+<p>
+Wehrt euch, aber unsere Schwerter sind jung.</p>
+
+<p>
+Sagt wehe, wehe. Denn wir schlagen euch alle ein wenig tot,
+Lieblinge &hellip;</p>
+
+<p>
+Das wird aber ein fröhliches Leichenfest werden. Huhu
+&ndash; ha &hellip; Ha&hellip; Ha &ndash; &ndash;
+&ndash;</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Lebensschatten</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Lebensschatten</h4>
+
+<p>
+Drama in vier Aufzügen und einem Vorspiel von J.
+Jacobsthal und Ernst Epstein</p>
+
+<p>
+selten hat mich etwas so sehr gerührt wie die
+Schmierenaufführung des Schauerdramas: Lebensschatten, die
+ich neulich im Theatersaal der Königl. Akadem. Hochschule
+für Musik erleben durfte.<br />
+Ich will versuchen, das »Drama« zu schildern. Es beginnt mit
+einem Ende, dem sogenannten »Vorspiel«: Asta, die todkranke
+Tochter des Muskel- und Gewaltsmenschen Eisen &hellip;
+(Eisen!)&hellip; Eisenring und seiner schwächlichen Frau Eva, muß
+wohl sterben, ehe noch das Vorspiel aus ist. So leid es
+allen tut. Asta verschwindet zu diesem Zweck aus der
+quatschigen, grünen Bühnenstube, gestützt auf die alte Amme
+Kathuschka. Ein unglaublich überflüssiger alter Nathan &ndash; ein
+pathologisch guter, jüdelnder Menschenfreund &ndash; Frau Eva und
+der selbstverständliche Arzt Doktor Normann (mit edlem
+unheilverkündenden Mienenspiel) reden inzwischen
+gefühlerisch allerlei über die allgemein bekannte Tatsache
+des Sterbens. Zu meinem Glück kommt Ämmchen Kathuschka bald
+schreiend und stürzend wieder auf die Bühne, weil die arme
+Asta &ndash; o ahnendes Publikum! &ndash;Jetzt wirklich mausetot ist.
+Ein Aufseufzen der Erleichterung in dem Zuschauerraum &hellip;
+Ein schwindsüchtiger Schrei der Mama, hinterher das übliche
+verhaltene Stöhnen&hellip; Ein Hinausgehen des Normann und des
+Nathan, dabei jenes Achselzucken, das da sagt: Ach, wie
+traurig ist doch das Dasein! Seht ihr's. Und herein kommt
+Robert Eisenring, Vertreter der Kraft &amp; Gesundheit. Er war
+lange fern (in den Krallen eines anderen Weibes), da er
+keinen Sinn für Familie und Lebensschatten zu haben scheint.
+Eva verhehlt ihm den Tod Astas keineswegs. Ein innerer Kampf
+tobt in ihm. Dann will er mit seiner Frau ein »neues Leben«
+(so nennt er das) beginnen. Die schwächliche Eva hat
+umgehend einen Wutanfall. Sie quietscht überschnappend, sie
+hasse ihn schon lange (geballte Fäuste!). Er habe sie bisher
+schlecht behandelt. Jetzt wolle sie nichts mehr von ihm
+wissen. Sie tritt heroisch ab. Eisenring aber spricht einen
+Monolog: &ndash;&ndash; Tochter tot &ndash; &ndash; Frau weg &ndash;&ndash; Schicksal,
+verwünschtes &ndash; &ndash; ein Eisenring &ndash; &ndash; läßt sich nicht
+unterkriegen von Lebensschatten &ndash; &ndash; nie &ndash; &ndash; niemals &ndash; &ndash; man
+sieht noch, wie er in ein neues Leben steigt. Da schließt
+sich sanft der blutrote Vorhang.<br />
+Dies war das Vorspiel. Nach der Pause (zehn Jahre später)
+ist der Eisenring nicht mehr Athlet, sondern ein reicher
+Kaufmann. Er hat einen leichtsinnigen Freund Hans und eine
+leichtfertige Braut Meta, die im zweiten Aufzug schon seine
+Frau ist. Im dritten Aufzug kommt ein mehrjähriges Kind Ruth
+hinzu, dessen Mutter Meta, dessen Vater eigentlich
+(heimlich) Hans ist. Hans hat außerdem bedeutende
+Unterschlagungen in dem Geschäft Eisenrings gemacht. Deshalb
+ist der reiche Eisenring im letzten Aufzug wieder ziemlich
+arm. Man merkt deutlich, daß die Lebensschatten jetzt auch
+über ihn gekommen sind. Er ist wohl schwer
+rückenmarkleidend, ahnt alles. Er überrascht den ruchlosen
+Hans mit der meta. Die Katastrophe folgt auf dem Fuße:
+Eisenring enterbt Meta, läßt den Hans ins Gefängnis bringen,
+dann fällt er tot (Herzschlag) auf eine Chaiselongue. Die
+Enterbte will sich jetzt auch entleiben. (Das Publikum nimmt
+die Geschichte schon lange komisch. Es hätte sicher einen
+vergnüglichen Skandal gegeben, wenn die unglückliche Meta
+Wort gehalten hätte.) Aber ein Redakteur spricht zu ihr
+ungefähr die weisen Worte: Nicht durch voreiligen Tod sühnt
+man, sondern durch langes und edles Leben. Wollen Sie? &hellip;
+Meta und das »intellektuelle« Publikum jubeln: Ja &ndash; &ndash;! Und
+der sanfte Blutrote schließt sich endgültig.
+»Lebensschatten« ist ein trostlos schlechtes Theaterstück.
+Trotzdem war ich ergriffen wie bei einem Ibsendrama. Noch
+nirgends offenbarte sich mir so deutlich und rein die
+Kommistragödie vom (dichterischen) Dilettantismus. Ich mußte
+immer daran denken, daß alle die schalen beschränkten
+Schwafeleien, die dummen tolpatschigen Geschehnisse, die
+pappigen Kolportagegestalten aus der selben heilig
+schmerzlichen Himmelssehnsucht geschaffen sind wie Goethes
+oder Rilkes unsterbliche Werke. Ich habe dem winzigen Herrn
+<span class="spaced">J. Jacobsthal</span>, so oft er sich,
+halb betäubt von seiner plötzlichen Wichtigkeit, unter
+vielen linkischen Verbeugungen an die Rampe schieben ließ,
+von Herzen zugeklatscht, weil ich kundtun wollte, daß ich
+(zwar keinen Dichter) einen von Tod und Dasein gequälten
+Menschen grüße. So einer ist gewaltig höher zu schätzen als
+sein besser angezogenes, tantiges, beschaulich grinsendes
+Publikum. Und sein Stück &ndash; das unmögliche &ndash; ist
+mir hundertmal lieber als ein unverschämt routiniertes
+Nichts des Herrn Dreyer oder des Herrn Philippi.</p>
+
+<p>
+Die Schauspieler waren nicht Dilettanten, sondern
+mittelmäßige und schlechte Schauspieler. Die meisten kommen
+von der Schmiere, andere gehen erst zur Schmiere. Ich könnte
+noch manches über die Darstellung und die Regie (die aus
+lauter Fehlern bestanden) sagen, aber die Einzelheiten haben
+für den Leser kaum Interesse. Und schließlich ist Schiller
+und Sudermann leichter zu spielen als J. Jacobsthal. Dann
+noch: Der unfähigste, wüsteste Schmierenschauspieler hat &ndash;
+so behaupte ich&hellip; Und will es hier nicht beweisen &ndash;
+tieferen menschlichen Wert als ein Krämer, ein Beamter und
+vielleicht ein praktischer Rechtsanwalt.</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4>
+<h5>Selbstkritik I</h5>
+
+<p>
+I</p>
+
+<p>
+weil ich glaube, daß viele die Verse Lichtensteins nicht
+verstehen, nicht richtig verstehen, nicht klar verstehen &ndash;</p>
+
+<p>
+II</p>
+
+<p>
+die ersten achtzig Gedichte sind lyrisch. Im landläufigen
+Sinn. Sie unterscheiden sich wenig von Gartenlaubenpoesie.
+Der Inhalt ist die Not der Liebe, des Todes, der allgemeinen
+Sehnsucht. So weit sie »zynisch« (im Kabaretton) sind, mag
+beispielsweise der Wunsch, sich überlegen zu fühlen, den
+Anstoß zu ihrer Formulierung gegeben haben. Die meisten der
+achtzig Gedichte sind unbedeutend. öffentlich sind sie nicht
+mitgeteilt. Bis auf eins. (Eins der letzten.) Das ist:</p>
+
+<p>
+Ich will in Nacht mich bergen,<br />
+nackt und scheu.<br />
+Und um die Glieder Dunkelheiten decken<br />
+und warmen Glanz.<br />
+Ich will weit hinter die Hügel der Erde wandern.<br />
+Tief hinter die gleitenden Meere.<br />
+Vorbei den singenden Winden.<br />
+Dort treffe ich die stillen Sterne.<br />
+Die tragen den Raum durch die Zeit.<br />
+Und wohnen am Tode des Seins.<br />
+Und zwischen ihnen sind graue,<br />
+einsame Dinge.<br />
+Welke Bewegung<br />
+von Welten, die lange verwesten.<br />
+Verlorner Laut.<br />
+Wer will das wissen.<br />
+Mein blinder Traum wacht fern den Wünschen der Erde.</p>
+
+<p>
+III</p>
+
+<p>
+Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt
+werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische
+Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der
+Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen
+in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und
+anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar.</p>
+
+<p>
+Beispiele: Der Athlet: Im Hintergrund ist Demonstration von
+Weltanschauung. Der Athlet &hellip; Bedeutet: Daß der Mann auch
+geistig seine Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich. &ndash;
+Die Gummischuhe: Man ist mit Gummischuhen ein anderer Mensch
+als ohne.</p>
+
+<p>
+IV</p>
+
+<p>
+Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p>
+
+<p>
+Die Dämmerung*)</p>
+
+<p>
+Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes
+zugunsten der Idee des Gedichtes zu beseitigen. Das Gedicht
+will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft
+darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu
+einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist
+nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf
+Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am
+Fenster, irgendwo &hellip; In ihrer Einwirkung auf die
+Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels,
+zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame,
+eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns,
+eines Kinderwagens, einiger Hunde bildhaft dargestellt. (Der
+Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p>
+
+<p>
+Der Verfasser des Gedichtes will nicht eine als real
+denkbare Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der
+Malkunst ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet &ndash;
+angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen
+Teich als Spielzeug benutzt, und die beiden Lahmen auf
+Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der
+Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen
+wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in
+den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der
+Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die
+Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen,
+in der er lustig sein muß &ndash; können ein dichterisches »Bild«
+hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar sind. Die
+meisten leugnen das noch, erkennen daher beispielsweise in
+der »Dämmerung« und ähnlichen Gebilden nichts als ein
+sinnloses Durcheinander komischer Vorstellungen. Andere
+glauben sogar &ndash; zu Unrecht &ndash;, daß auch in der Malerei
+derartige »ideeliche« Bilder möglich sind. (Man denke an
+die Futuristenmanschepansche.)</p>
+
+<p>
+Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar &ndash;
+ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein
+weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern
+hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern
+das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen
+sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr
+wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem
+Fenster.</p>
+
+<p>
+Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt
+mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde
+fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen
+lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug
+benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns
+haben &hellip; Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben
+&hellip;</p>
+
+<p>
+Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein
+Dichter wird vielleicht verrückt &ndash; macht einen tieferen
+Eindruck als &ndash; ein Dichter sieht starr vor sich hin &ndash;</p>
+
+<p>
+IV</p>
+
+<p>
+anderes nötigt in dem Gedicht: Angst und ähnlichen zu
+Reflexionen wie: Alle Menschen müssen sterben &hellip; Oder: Ich
+bin nur ein kleines Bilderbuch &hellip; Das soll hier nicht
+auseinandergesetzt werden.</p>
+
+<p>
+V</p>
+
+<p>
+Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch
+nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die
+Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht
+Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander
+bemerken&hellip; Ist jedenfalls nicht das Charakteristische des
+»Stils«. Beweis ist: Lichtenstein schrieb Gedichte, in denen
+das »Groteske« unbetont hinter dem »Ungrotesken«
+verschwindet.</p>
+
+<p>
+Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten
+(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die
+Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge
+beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das
+Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne
+bestimmte künstlerische Absichten.</p>
+
+<p>
+VI</p>
+
+<p>
+Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p>
+
+<p>
+Alfred Lichtenstein<br />
+(Wilmersdorf)</p>
+
+<p class="footnote">
+* man erinnere sich des schönen: Weltende &hellip; des Jacob van
+Hoddis, erschienen im ersten Jahr der Berliner Wochenschrift
+»Die Aktion«. Tatsache ist, daß A. Li. (Wi.) dies Gedicht
+gelesen hatte, bevor er selbst »Derartiges« schrieb. ich
+glaube also, daß van Hoddis das Verdienst hat, diesen »Stil«
+gefunden zu haben, Li. das geringere, ihn ausgebildet,
+bereichert, zur Geltung gebracht zu haben. [Anmerkung von
+Franz Pfemfert.]</p>
+
+</body>
+</html>
diff --git a/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/04_retter_des_theaters.html b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/04_retter_des_theaters.html
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+ <title>Retter des Theaters</title>
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+<body>
+
+<h4>Retter des Theaters</h4>
+
+<p>
+Die Theater sollten aufhören, den Kinos Konkurrenz zu
+machen. Sie erreichen dadurch &ndash; freut euch, Theaterfreunde &ndash;
+das Gegenteil von dem, was sie wollen: Sie krepieren.</p>
+
+<p>
+Am besten erhalten sich diejenigen Theaterbetriebe, die dem
+Kino nicht das geringste einräumen: Weder in der Auswahl der
+Stücke Konzessionen machen, noch in dem Rahmen. Dies ist
+erklärlich. Was die Kinos &ndash; nachgebend den Instinkten der
+Menge &ndash; bieten, werden die Theater in derselben Masse und
+Fülle niemals produzieren können, gebunden an ihre
+Schranken. Das Publikum bemerkt kopfschüttelnd das hilflose
+Bemühen. Und läuft in die Kinos. Denn was das Publikum an
+das Theater fesseln sollte: Die Kunst, wird zumeist
+schandhaft vernachlässigt. (Wie wenn Filzhutfabrikanten den
+Einfall hätten, zu einer Zeit, wo allgemein Strohhüte
+getragen werden, Filzhüte in Form und Farbe von Strohhüten
+auf den Markt zu bringen.)</p>
+
+<p>
+Bevor die Kinos kamen, waren die vielen »Theater« minderen
+Ranges die bei weitem größere Gefahr des Theaters.
+Charakteristischerweise sind durch die Kinos Institute
+dieser Art am meisten bedroht. Einige werden durch die
+Geschicklichkeit ihrer Direktoren oder durch andere Zufälle
+noch eine Weile erhalten bleiben. Unzweifelhaft ist das
+»Aussterben« der minderwertigen Theaterbetriebe binnen
+kurzer Zeit. Das Publikum, das an derlei Geschmack fand, hat
+im Kino erheblich üppigeren Ersatz: Mord und Totschlag in
+Hülle und Fülle. Komik bis zum Platzen. Fett aufgemachte
+Rührung. Und der Kinomime mit seinen faustdicken
+Unterstreichungen &ndash; etwa in einer tragischen, bunt
+kolorierten Ehebruchsgeschichte (in historischen Trachten) &ndash;
+übertrifft den Schmieren-Hamlet bedeutend an
+herzergreifender Wirkung.</p>
+
+<p>
+Die Theater, die sich erhalten wollen, sind gezwungen, sich
+wieder auf sich zu besinnen. Die Direktoren müssen reine
+Schauspielkunst pflegen. Die Schauspieler &ndash; im Gegensatz zu
+den »Filmern«, besser »Kinistern« oder »Kinikern« &ndash;, um
+ihren Ruf zu wahren, alle Mätzchen und Scherze fallen
+lassen. Das Publikum, das trotz des Kinos in die Theater
+geht, ist anspruchsvoll und läßt sich nichts vormachen.</p>
+
+<p>
+Es können nicht genug Kinos entstehen. Ich würde
+kulturpolizeilich verordnen, daß in jeder Straße ein halbes
+Dutzend aufgemacht werde.<br />
+Je mehr die Menschen sich in die Kinos stürzen, desto eher
+wird ein Teil des Schwindels überdrüssig werden. Von den
+Hunderttausenden, die Kinos bevölkern, werden jährlich
+einige Hundert sich wieder zum Theater bekehren.</p>
+
+<p>
+Die Zahl der Theater wird in Zukunft geringer sein, aber
+ihre Qualität durchschnittlich unverhältnismäßig besser. Die
+unfähigen Direktoren, Dramaturgen, sonstigen Krachleute, die
+bisher am Theater schma-rotzten, werden im Kinobetrieb einen
+geeigneteren Ort für ihre Fähigkeiten entdecken. Die vielen
+mittelmäßigen und schlechten Schauspieler, die jetzt noch
+allerorten die Preise drücken und den Weg versperren, können
+vorzügliche Kiniker werden. Ein talentierter Schuster wird
+künftig nicht in die Theaterschule, sondern in die
+Kinoschule gehen. Lispeler, Schiefe, Bucklige, Stumme,
+ähnliche Defizitmimiker werden ihre persönliche Note
+leichter und glücklicher am Kino austoben können.</p>
+
+<p>
+(Das Kino der unbegrenzten Möglichkeiten &hellip;)</p>
+
+<p>
+Aber &ndash; das Theater wird, dank dem Kino freigeworden von
+hemmendem Ballast und ungünstigen Einflüssen, zurückkehren
+<span class="spaced">müssen</span>: Zur heiligen Schauspielkunst.</p>
+
+</body>
+</html>