WODIANER

DER junge Baron Wodianer-Bruckenthal-Sarmingstein betrachtete sein himmelan starrendes Haar, das über seine Stirn, früh verwelkend, endlich grau hereingebrochen war in diesem dreißigsten Jahr seines ziellosen Lebens. Der Spiegel trug nicht die Schuld, der hatte Generationen von Wodianern in der Wiege strampeln und etwas stiller auf der ihr folgenden Bahre liegen gesehen und jedem in durchaus zuverlässiger Art ein Bild des veränderlichen Körpers gezeigt, über das in manchen Fällen sogar ein Abglanz der recht unsterblichen Seele gebreitet war. Nun saß Albrecht Wodianer als letzter vor dem treuen Möbel und ärgerte sich über ein Stück Materie, das ihn langen Atems überdauern würde, unerblindet ihm die Unreinheiten seines Geistes wies: die weiß angelaufenen Speere seiner Haare. Albrecht Wodianer ertrug den Anblick des Spiegels schließlich nicht länger; da er aber allen Freunden gegenüber sanften Gemütes war, zertrümmerte er ihn nicht, sondern trat den Rückzug ins Café »Prag« an. Er selbst, wiewohl verarmt, kam sich dort etwas deplaziert vor; ein Achtelliter Raubritterblut empörte sich in ihm gegen die spitzfindige Synagogenluft dieses Zionistenbeisels, in dessen Ecken immer ein paar jüdische Literaten urchristelten. Doch der Umstand, daß sich hier Räume ärmlichster Schlichtheit über zahllose Stilepochen hinweg unversehrt im zwanzigsten Jahrhundert geborgen hatten, beruhigte ihn wieder, sonderbarerweise, obwohl seine Nervosität und Zeitzerriebenheit sonst sich gegen die Dauer der Gegenstände empörte.

Wodianer bestellte im leeren Café irgendwas und ging dann wieder nach Hause, froh, niemanden getroffen zu haben, denn das Öffnen des Mundes zu formellen Reden und Antworten, zu dialektischen Wortkrämereien, die nichts von seinem erschütterten Seelenzustande offenbaren durften, weil Haltung unter Egoisten Ehrensache war — dieses ganze, immer wieder nur einen konventionellen Schein liefernde Gebaren war ihm verhaßt. Und doch mußte er täglich, täglich ins Café trotten, er konnte die Zeit vor Mitternacht nie zu Hause verbringen, gewohnheitsmäßig warf er diese Stunden an den nächstbesten Frauenleib, oder ließ die Worte nahe hockender und doch weltweit entfernter Literaten und Intellektbestien wie Fliegen in die Melange fallen, die er dann nicht austrank.

Während des Heimweges empfand Wodianer eine seltsame Blutleere im Schädel und empfand sie ungern, denn sie erinnerte ihn an den Tag, da der Tod zum letzten Male sich in seiner Nähe aufgehalten hatte, eine Stirnwunde hinterlassend und kuriose Schwächen. Folgen eines Duelles mit dem Hauptmann Orbenhayn, der eine Bemerkung Wodianers — was auf dem rötlichen Beteigeuze den Mädchen der Erde entspräche, müßte dort schöner sein — auf seine Braut bezogen hatte.

Albrecht Wodianer sah vor sich liegen den sterbenden Orbenhayn, dessen blutschäumender Mund rötlicher glänzte als der Stern Beteigeuze. Und spürte, in der Erinnerung wieder Leib an Leib mit Ex-Orbenhayns Braut, abermals die Wahrheit seiner Bemerkung.

Auf einem winterkahlen Baume vor der Universität schwirrte es in kleinen Flügen von Ast zu Ast, um nicht zu erfrieren. Zweigauf, zweigab glatt verschluckbare weiße Flaumenbälle: Spatzen, die in Scharen über den Baum versammelt waren. Hie und da sauste, den Baum erschütternd, eine Elektrische vorbei; die in sich verkrochenen Klümpchen, wärmehungernd, versuchten am Stamm kleben zu bleiben. Wodianer fühlte mit ihnen kein Mitleid, er wußte: in den Tierchen schwangen die Seelen ungeborener oder abgeschiedener Mädchen, denen es bisher mißlungen war, in die Universität zu laufen, und die nun hier, nahe der Wissenspforte nächster Wiedergeburt harrten.

Wodianer haßte Frauenstudium, seine schwarzhaarige Männerfaust fuhr hinab zu den Kieselsteinen der Reitallee, und eine Faustvoll ergoß sich über rasch aufschwirrende Sperlinge. »Viel Leben um nichts!« murmelte er, zerrte seinen Bart und fluchte schon lauter: »Nicht erwarten können sie es, die idiotischen Dinger! Stellen sich da in Nacht und Nebel an, als wäre so ein flaches Kolleg eine gute Burgtheatervorstellung. Und nicht früher werden sie aufhören, die zudringlichen Ludern ... bis sie von Logarithmen ganz verwanzt sein werden. Pfui Teufel!« Sehr unvermittelt erklang in seinem Gehirn die Stimme seiner toten Mutter: »Bubi, das darf man nicht!« Albrecht schlug mechanisch die Hände gegeneinander, daß von den Handschuhen die schuldbeweisenden Steinkörnchen glitten. Hernach ward er doppelt unwirsch, krächzte heiser: »Das lebt noch immer in mir! Als ob so eine alte tote Baronin Wodianer-Bruckenthal-Sarmingstein wüßte, welche Gesetze heute im Leben gelten. Es war doch meine Pflicht, möglichst vielen dieser lebensschwangern Tierchen die nächste Wiedergeburt abzutreiben!«

Seine Augen noch baumwärts gerichtet, strauchelte er über hervorstehende Straßenbahnschiene, fühlte sich plötzlich im Besitze zweier Kniee. Die leicht kitzelnden Schrammen bluteten stark, und indem er die eine gerechte Strafe Gottes behauptende Stimme seiner Mutter abwies, beschloß er, diesmal kein Mädchen zu frequentieren, da er spürte, er könne diesen Abend mit dem einen sanften Kräfteverlust ganz gut auskommen.

Wieder in sein Zimmer ausgespien, fragte er sich, ob er den intriguanten Spiegel weiß oder schwarz verhängen solle. Die Antwort darauf gab ein Knall, irgend etwas, Stein oder Kugel, durchschlug Doppelfenster und Spiegel. Wodianer riß erfreut die Fenster auf, lehnte sich über die Brüstung, und seine Augen bohrten sich in die nächtigen Parks, aus denen her das Feindselige zu ihm gedrungen war. Dann verfolgte er, bei jedem Schritt Glassplitter zermalmend, die Flugbahn des Geschosses, fand eine abgeplattete Revolverkugel ... und nannte schließlich diese Begebenheit irrsinnig, da ihm bis zum Überdruß bekannt war, daß er außer etlichen imaginären Halunken und Ausgeburten seines Hirnes keinen realen Freund oder Feind auf der Erde besaß. Die Schrammen der Knie bluteten noch immer im leisen Rhythmus eines kleinen Schmerzes. Er legte keinen Verband an. Schmutz in der Wunde? Wenn ein lächerlicher Sturz die Macht hatte, ihm durch Blutvergiftung das Leben zu nehmen, dann pfiff er überhaupt auf diese dumme Errungenschaft ...

Irgendwer hatte also nach ihm geschossen. Er ahnte dumpf und immer heller die altruistische Verpflichtung, den wohlgemeinten Versuch des Unbekannten zu Ende führen zu müssen, lud, am Fenster stehend, die abgeplattete Revolverkugel mechanisch in den Lauf eines Schießinstruments, die Sache ging zielgerecht in seine duellalte Schläfennarbe los, und mit der Hand nach den Sternen greifend, als wolle er diese Steinchen auf irgendwen werfen, hörte er noch, gegen den zertrümmerten Spiegel fallend, verzweifelt als letztes Wort in der Sprache der alten Welt die bekümmerte und eines tschechischen Akzentes nicht entbehrende Stimme des Ewigkeitsschaffners: »Wodianer-Bruckenthal-Sarmingstein umsteigen!«